Der Bürokratieabbau kann kein Eliten-Reformprojekt sein. Denn der Bürokratismus ist keine Auswucherung des Staates, sondern untrennbar mit der politischen Kultur in Deutschland verbunden.
Seit ich denken kann, beklagen sich die Deutschen über die überbordende Bürokratie, sei es an der Staatsspitze oder in der lokalen Verwaltung. Tatsächlich vermochte es keine Regierung der letzten Jahrzehnte, sich beim Thema Bürokratieabbau nachhaltig positiv hervorzutun. Es scheint, als bliebe dieses Projekt ein ewiger Wunschtraum, der immer wieder in der deutschen Verwaltungskultur zerplatzt. Gleichzeitig äußern sich die Deutschen aber auch glücklich darüber, dass die Dinge hierzulande so wohlgeordnet und viel geregelter seien als „im Ausland“. Woher also rührt die Unfähigkeit der deutschen Politik, Bürokratie tatsächlich abzubauen? Oder sind die Deutschen einfach nur verliebt in Standards, Grenzwerte, Richtlinien und Kontrollen?
Verwurzelt in der Nachkriegsdemokratie: der regulierte Souverän
In Deutschland mahlen die Mühlen langsam, aber stetig. Dies war das Ziel der Mächte, die nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue politische Ordnung für Deutschland entwarfen. Obwohl sich die beiden deutschen Staaten ab 1949 unterschiedlich entwickelten, hatten sie gemeinsam, dass die Gesellschaft fest in die jeweiligen Systeme eingebunden wurde, um Instabilität und Unordnung zu verhindern.
In der DDR wurde die Kontrolle durch die SED und die UdSSR sichergestellt und mit Gewalt verteidigt. Im Gegensatz dazu wurde in der BRD ein demokratisches System etabliert, in dem aber politische Abweichungen vom westlichen Kurs nicht möglich waren. Die Eingliederung Westdeutschlands in die Nato, deren Ziel laut ihrem Generalsekretär Lord Ismay darin bestand, „die Russen draußen und die Deutschen unten“ zu halten, festigte diese außenpolitische Ordnung. Die „Fünfprozenthürde“ sollte der innenpolitischen Stabilität dienen, indem sie extreme Parteien klein und gemäßigte Parteien an der Macht hielt. Der Föderalismus verhinderte zudem die Konzentration von zu viel Macht in wenigen Händen. Sicherheit und Stabilität haben Vorrang vor Effizienz – ein Grundprinzip der bundesrepublikanischen politischen Kultur.
Diese Kultur fußte auf der nach dem Zweiten Weltkrieg weithin akzeptierten Annahme, man könne den Deutschen als kollektiv demokratiefeindlichem „Tätervolk“ nicht trauen. Während in anderen Staaten Präsidenten direkt gewählt werden, sind die demokratischen Bezüge in Deutschland weniger direkt, sprich: verklausulierter, bürokratisierter. So wird bis heute als Argument gegen die Einfügung direktdemokratischer Instrumente angeführt, dass gerade die zu wenig regulierte und zu direkte Demokratie der Weimarer Republik den Aufstieg Adolf Hitlers erst ermöglicht habe.
Deutscher Konsens: Regelungen schützen Demokratie und Stabilität
Die deutsche politische Kultur atmet bis heute den Geist der auf Stabilität ausgerichteten Ausrichtung der Nachkriegs-Bundesrepublik: Konsens und Kontinuität statt Konflikt und Konfrontation – das ist bis heute die Staatsräson. Natürlich gab es auch in der Bundesrepublik politische Krisen und Skandale, doch die politischen Entwicklungslinien veränderten sich nur langsam und allmählich.
Während sich in den westeuropäischen Nachbarländern rasantere politische Veränderungen vollzogen, entwickelte sich in Westdeutschland eine gemäßigte politische Kultur. Stabilität, Verlässlichkeit und Stärke „made in Germany“ wurden zum Gütesiegel, dessen Basis man politisch nie infrage stellen konnte, ohne sich damit des Angriffs auf Demokratie und Wohlstand schuldig zu machen. Der Verweis auf die Verhältnisse in der DDR stabilisierte die westdeutsche Nachkriegsordnung zusätzlich.
Die Europäisierung des deutschen Bürokratismus
Das Ende des Systemkonflikts zwischen Ost und West verschärfte die schon länger schwelende politische Vertrauenskrise in den Staaten Westeuropas. Wirtschaftliche Schwierigkeiten und erstarkende Protestparteien wurden zu ständigen Wegbegleitern. Je stärker die innenpolitischen Probleme wurden, desto mehr nahmen die Bemühungen um eine politische Integration Europas an Fahrt auf. Die „Europäische Union“ entwickelte sich zu einem Schutzschild, hinter dem nationale europäische Eliten gemeinsame Strategien und Instrumente entwickeln konnten, die dem unmittelbaren demokratischen Zugriff durch die Wahlbevölkerung entzogen waren.
Die Abgehobenheit des EU-Machtapparates ist keine unangenehme Begleiterscheinung – sie ist das Ziel. Tatsächlich hat die EU seit ihrer Gründung schlechte Erfahrungen mit nationalen Volksentscheiden gemacht, in denen es um den Ausbau ihrer Gestaltungsbefugnisse ging. Ob in Irland, in Frankreich oder in den Niederlanden: Zumeist gewannen die Kritiker dieser politischen Entwicklung. Die Deutschen wurden – wie konnte es auch anders sein – gar nicht erst gefragt.
Deutschland, eine Bür-ger-okratie
„Sie ist lästig, schafft aber auch Sicherheit“ – so ungefähr lässt sich die über Jahrzehnte gewachsene Einstellung vieler Deutscher zur ausufernden Bürokratie zusammenfassen. Das Jammern über Schwerfälligkeit, Unbeweglichkeit und Langsamkeit in nahezu allen Bereichen des Lebens ist zum Zeitgeist-Standard geworden. Doch in unsicheren Zeiten wächst auch der Wunsch nach mehr Übersichtlichkeit, Verlässlichkeit und Sicherheit. Die Vorstellung, bestimmte Themenbereiche oder Räume könnten nur unvollständig geregelt sein, wird heute mit Ängsten verbunden und gilt vielen als inakzeptabel.
Zu dem starken Gefühl der Verunsicherung tritt das Misstrauen gegenüber allem und jedem hinzu. Insbesondere politisch ambitionierte Menschen sehen daher den Staat als einzige Instanz, die Veränderungen durchsetzen kann. Während die Gemeinschaft in immer kleinere Gruppen zerfasert, gewinnt der Staat an Statur. Gerade angesichts der immer stärker beschworenen globalen Herausforderungen gilt der Fokus auf gesellschaftliches Handeln „von unten“ als naiv, hoffnungslos veraltet und sogar als gefährlich für den Zusammenhalt.
Um zwischen „der Politik“ und der auseinanderdriftenden Gesellschaft vermitteln zu können, hat sich in den letzten Jahren ein Netz sogenannter Nicht-Regierungsorganisationen (NRO) entwickelt. Diese zum Teil von staatlicher oder parteilicher Finanzierung abhängigen Apparate wirken in die Gesellschaft(en) hinein, ersetzen aber auch „das Volk“ als Ansprech- und Handlungspartner. Wenn heute von der „Zivilgesellschaft“ die Rede ist, mit der Politiker behaupten, „im ständigen Austausch“ zu stehen, weiß jeder, wer ungefähr damit gemeint ist, vor allem aber auch: wer nicht gemeint ist, nämlich diejenigen, die den politischen Grundkonsens kritisieren.
Schwarz-Rot-Grün: die deutsche Veränderungsbürokratie
Mit dem Erscheinen der Partei „Die Grünen“ in den 1980er-Jahren veränderte sich die politische Landschaft in Deutschland nachhaltig – nicht aber ihr Hang zu bürokratischer Gesellschaftsregulierung. Trotz ihres zunächst staatskritischen Auftretens wurde schnell deutlich, dass die grüne Partei die deutsche Kultur der Verordnungen und Regulierungen nicht konfrontieren, sondern für ihre Zwecke nutzen würde. Statt die deutsche Bürokratiekultur abzulehnen, intensivierten die Grünen sie und verliehen ihr ein progressives Image.
Im grünen Politikverständnis spielt das Kontrollieren, Begrenzen und Herunterschrauben von (schädlicher) menschlicher Aktivität zum Wohle von Umwelt, Klima und dem Planeten eine zentrale Rolle. Dies bekommt heute jeder zu spüren, der etwas tun und gestalten will. Der „grüne Umbau der Gesellschaft“ ist nur durch einen potenten und unnachsichtigen Staat zu erreichen. Individuelle Freiheit wird daher im grünen Denken ambivalent betrachtet. Statt auf Freiräumen liegt der Schwerpunkt auf Schutzräumen, auf Begrenzungen, auf Grenzwerten sowie auf konsequenter Maßregelung bei Verstößen und Zuwiderhandeln.
In diesem Sinne wurde der Staat in den letzten Jahren kontinuierlich zu einer grünen Veränderungsbürokratie weiterentwickelt, die tief in die Gesellschaft hinein, aber auch global vernetzt ist. Zahlreiche NROs haben ihren politischen Einfluss innerhalb und außerhalb traditioneller internationaler Institutionen wie den UN ausgebaut. Diese globalen Apparate agieren geschützt von den Unbilden politischer Meinungsumschwünge auf nationaler Ebene und sind keinem Wahlvolk mehr Rechenschaft schuldig.
Bürokratieabbau? Nur als Angriff auf das deutsche (Staats-)Wesen
Ein echter Bürokratieabbau kann in Deutschland nicht als elitäres Reformprojekt funktionieren. Der Bürokratismus ist keine Auswucherung des Staates, sondern untrennbar mit der politischen Kultur in Deutschland und dem dazugehörigen Menschenbild verbunden. Hieraus erklärt sich auch die schwierige Lage der etablierten deutschen Parteien: Einerseits wird das Ergebnis der jüngsten Bundestagswahlen als „letzte Warnung“ interpretiert, nun endlich die Bremsen zu lösen und die Hindernisse zu beseitigen, die einer Verbesserung der Lage Deutschlands im Wege stehen.
Andererseits wird aber auch deutlich, dass die etablierte deutsche Politik genau hierzu nicht imstande ist. Nachhaltige Regulation, unbedingte Sicherheit und das stetige Verhindern von Veränderungen bilden eine tragende Säule der deutschen Staatsräson. Von diesem Wege abzuweichen, würde einer politischen Vision bedürfen. In einer Politiklandschaft, in der die möglichst entpolitisierte Verwaltung des Ist-Zustandes immer mehr zur Kernkompetenz des Führungspersonals geworden ist, entstehen solche Ideen nur schwer, und schon gar nicht aus der politischen Mitte heraus. Dazu braucht es ein neues Denken sowie neue und offene Debatten.
Genau dies ist angesichts der prekären Lage des Establishments der Berliner Republik nicht zu erwarten. Stattdessen werden die letzten Unterschiede zwischen den verschiedenen Grundkonsens-Parteien bis zur Unkenntlichkeit verwischt, denn man braucht einander. Das Aufrechterhalten der „Brandmauer“ gegen die „Alternative für Deutschland“ (AfD) wirkt wie der Versuch, ein Feuer im Haus dadurch zu löschen, dass man alle Fenster und Türen verbarrikadiert.
Keine Freiheit in Sicht – auch nicht in der AfD
Auch von einer aus der politischen Isolation befreiten AfD ist kein Freiheitsimpuls zu erwarten. Tatsächlich steht die Partei in ihrer Staatsfixierung ihren Konkurrentinnen in nichts nach. Sie mag andere Prioritäten setzen, jedoch keine, die den Bürgern insgesamt mehr Eigenständigkeit und Spielräume in ihren Entscheidungen zugestehen. Als Sammelbecken ehemaliger Mainstream-Wähler ist die AfD programmatisch auf Spurensuche nach dem einen Moment der deutschen Nachkriegsgeschichte, ab dem die Dinge aus dem Ruder gelaufen sein sollen. Selbstverständlich scheitert diese Suche, weil Politik so nicht funktioniert. Die Lektüre des Buches „Widerworte – Gedanken über Deutschland“ der AfD-Chefin Alice Weidel ist in dieser Hinsicht erhellend und desillusionierend zugleich.
So bleibt der Partei nichts anderes übrig, als Bürokratiekritik dort aufzugreifen, wo sie populär ist (Industriepolitik, Energiepolitik, Bürgerbevormundung, die eigene Meinungspolitik), gleichzeitig aber an anderer Stelle Ängste zu schüren, um dann die Zügel stärker anzuziehen und Schlagkraft zu beweisen (Null-Toleranz in Sozial-, Asyl- und Drogenpolitik). Wie wenig Neues zu erwarten ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die AfD damit wirbt, die „echte, alte“ CDU zu sein – also die prägende politische Kraft der durchbürokratisierten deutschen Nachkriegsrepublik.
Ähnlich wie bei den Grünen muss man auch bei der AfD davon ausgehen, dass sie, sobald man sie lässt, die deutsche Veränderungsbürokratie nach ihrem Ermessen umbauen, nicht aber abbauen wird. Ein Frontalangriff auf die deutsche Bürokratiekultur von dieser Richtung ist weder zu erwarten noch zu befürchten, je nach eigenem Standpunkt.
Freiheit kommt nur von unten
Um einen erfolgversprechenden Kulturkampf gegen die deutsche Bürokratiekultur anzuzetteln, erscheint es notwendig, an anderer Stelle zu beginnen. Die inhaltliche Basis für die Bür-ger-okratie ist die Kultur der Angst und des Misstrauens, die in Deutschland extrem stark ausgeprägt und auch international als „German Angst“ bekannt ist. Sie ist die Ursache dafür, dass die Deutschen mehrheitlich der Ansicht sind, Freiräume, Unklarheiten, fehlende Grenzwerte und Grautöne stellten eine Gefahr für die allgemeine Sicherheit, die öffentliche Ordnung und die persönliche Freiheit dar. Diesen Dreiklang zu zerschlagen und im Alltag und im Zusammenleben funktionierende Gegenmodelle zu entwickeln und auszuweiten, ist ein wichtiger Schritt, um der Kultur der Angst und des Misstrauens etwas entgegenzusetzen.
Dies setzt Energien frei, die das Land dazu befähigen können, viele seiner Selbstbockaden und Bremsen zu lösen, Prozesse zu beschleunigen und neue Ideen entstehen zu lassen, anstatt darauf zu warten, dass regierenden (oder oppositionellen) Gesellschaftsverwaltern etwas Neues einfällt. Ein alter, aber leider allzu zutreffender Witz besagt, dass heute in Deutschland sogar das Feuermachen verboten würde, weil Restrisiken nicht ausgeschlossen werden können. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Menschen in Deutschland wieder mehr zutrauen, sich selbst Feuer zu machen – auch unter dem eigenen Hintern, und auch mal ohne behördliche Genehmigung.
Dieser Artikel ist am 04. April 2025 bei Cicero Online erschienen.