Der Terror lebt von unserer Angst

Im Kampf gegen den Terror macht sich ein Gefühl der Ohnmacht breit. Warum wir jetzt umso mehr das Leben führen sollten, das die Feinde der Freiheit so hassen.

Paris, Nizza, Ankara, Berlin, London, Stockholm, Dortmund. Europäische Großstädte. Und Tatorte des Terrors. Aber Terroranschläge sollten nicht das Schicksal dieser Großstädte bestimmen oder besiegeln. Gerade weil Attentäter wollen, dass nichts mehr so wird, wie es einmal war, ist es so wichtig, ihnen diesen Gefallen nicht zu tun und in derselben Art weiterzuleben wie bisher – vielleicht sogar noch ein bisschen mehr, ein bisschen bewusster und intensiver. Warum sollten wir auch ausgerechnet die Agenda derjenigen übernehmen, die unsere Lebensweise zerstören wollen?

Dies bedeutet nicht, dass wir uns nicht wehren sollten. Es geht nicht um das christlich-pazifistische Hinhalten der anderen Wange. Natürlich müssen wir uns wehren, am besten auch nicht erst dann, wenn wir attackiert werden. Wir sollten uns und unsere Freiheiten insgesamt ernster nehmen und sie auch im Alltag verteidigen. Bislang ist das Verteidigen unserer Rechte und unserer aufgeklärten Werte zumeist nicht viel mehr als ein Abwehrreflex, der durch Attacken von außen ausgelöst wird. Menschlich und solidarisch werden unsere Züge immer nur kurz und dann, wenn es um Trauer, Wut und um das Gefühl der Bedrohung geht. Sobald diese Gefühle abklingen, schwindet auch das Gefühl des Miteinanders.

Zaudern macht uns zur Zielscheibe

In unserem Alltag tun wir uns schwer damit, unsere Gemeinsamkeiten zu erkennen und wertzuschätzen. Stattdessen betonen wir Unterschiede, beharren auf verschiedenen Identitäten und dividieren uns stärker auseinander, als es vielleicht nötig wäre. Offensichtlich sind wir abhängig von klar umrissenen Feindbildern, da es uns ohne diese schwer fällt, Freunde zu erkennen und unsere eigene Position zu bestimmen. Wenn wir nicht aus diesem defensiven und passiven Reagieren auf Angriffe herauskommen und nicht damit beginnen, genau die Werte, für die wir von Terroristen gehasst werden, stärker zum Kern auch unseres tagtäglichen Lebens zu machen, dann degradieren wir uns selbst zu Opfern und geben jede Glaubwürdigkeit ab.

Heute sind es gerade unsere Unentschiedenheit und unser Zaudern, die uns zu so dankbaren Zielscheiben des Terrors machen. Wir reagieren mit Angst und Zweifel und weichen graduell zurück von unseren Überzeugungen als auch vor Bedrohungen. Die Konsequenzen dieses ständigen Zurückweichens kann jeder selbst spüren: Wir tendieren dazu, die Dinge nicht mehr beim Namen zu nennen und die Wahrheiten nicht mehr auszusprechen. Wir sind inkonsequent, argumentieren auf der Basis doppelter Standards und arbeiten mit der permanenten „Ja-aber“-Logik. Wir relativieren vieles und vermeiden es, für Überzeugungen klipp und klar einzutreten. Unsere Konsenssucht macht uns unglaubwürdig, unsicher, moralisch zweifelhaft und angreifbar.

Dieser hausgemachte Relativismus bringt uns dazu, unsere eigenen Freiheiten und Rechte zu beschränken – in der vagen Hoffnung, dadurch weitere Konflikte verhindern zu können. Vielen erscheint diese Strategie als progressiv und versöhnend, dabei ist sie kontraproduktiv, anpassend und feige. Mehr noch: Sie kultiviert unsere Selbstzweifel. Und hält den Terror so am Leben, da sie ihm in den Augen mancher eine gewisse Legitimität verleiht. In manchen Fällen entwickelt sich so sogar Sympathie für Terroristen, weil diese als Kämpfer für ein nachvollziehbares Ziel eingestuft werden und man nach Parallelen und Anknüpfungspunkten sucht. Diese Suche kann so weit gehen, dass Teile der radikalen Kritik übernommen werden.

Wir machen PR für Terroristen

Terroristen ziehen ihre Energie aus diesem Relativismus und der Bereitschaft, sich der Logik des Terrors zu beugen. Das Töten Unschuldiger an sich bringt dem Attentäter, seiner Organisation und Ideologie nichts. Zum „Erfolg“ wird die Tat erst dann, wenn sie Kettenreaktionen weit über den Tatort und die Tatzeit hinaus auslösen kann. Solche Kettenreaktionen entstehen aber nur, wenn Menschen und gesellschaftliche Strukturen sich so berechenbar verhalten wie Dominosteine. Auf dieser Berechenbarkeit beruht das Erfolgsrezept des Terrors. Er betreibt die Zersetzung des Freiheitswillens, der Widerstandsfähigkeit und der Flexibilität der Gesellschaft. Sein eigentliches Ziel ist die Spaltung und Zerstörung des Gemeinwesens. Diese liefert ihm einerseits neue Kämpfer frei Haus und treibt ihm andererseits Millionen von Menschen als potenzielle Geiseln in die Arme.

Momentan ordnen wir uns dieser durchschaubaren Terrorisierungs-Logik unter: Wir schaffen unsere eigenen Freiheitsrechte ab, geben humanistische Werte zugunsten einer vermeintlichen Steigerung unsere Wehrhaftigkeit oder einer scheinbaren Verbesserung unserer Sicherheit durch fragwürdige Kompromisse preis. Kurz: Wir stellen uns wie Dominosteine in Reihe und Glied auf und warten auf den nächsten Domino-Day. Und wir können sicher sein: Der kommt bestimmt, gerade weil wir warten. Wir garantieren mit unserer Unterordnung unter diese Logik, dass der Business-Case des Terrors funktioniert.

Attentäter können nichts weiter als Attentate verüben. Ob sie zu unseren „Terrorisierern“ werden, hängt einzig davon ab, ob wir ihnen diesen Einfluss gewähren. Derzeit tun wir ihnen den Gefallen. Wir sind so willfährig, dass sich mittlerweile jeder unterdurchschnittliche Kleinkriminelle unserer vollen Aufmerksamkeit sicher sein kann, solange er bei seinem Überfall auf eine Tankstelle nur deutlich vernehmbar „Allahu akbar“ ruft. Es ist auch unsere Paranoia, die den Terror zu einer Boombranche macht. Unsere gesellschaftliche Kommunikation und unsere öffentliche Verarbeitung solcher Anschläge – ganz gleich, ob sie über offizielle Medien oder soziale Netzwerke erfolgt – wirkt als Verstärker des Terrors. Er braucht gar keine PR-Abteilung, das machen wir selbst.

Generalstreik gegen die Terror-Logik

Was uns von vermeintlichen Abendlandverteidigern oder aber von kosmopolitischen Relativisten als Antworten auf den Terror vorgeschlagen wird, ist in Wirklichkeit dessen Lebensversicherung. Beide Seiten wollen, dass wir auf den Terror mit Umdenken reagieren und unser Leben und unsere Gesellschaft gründlich umgestalten. Und genau das ist der verkehrte Weg: Wir sollten uns darüber klar werden, dass Attentäter selbst keine Gesellschaften verändern können. Sie können unsere Gesetze nicht verschärfen, sie setzen auch keine Rechte außer Kraft. Das können wir nur selbst. Wir können es aber auch lassen.

Es ist Zeit, unseren Umgang mit dem Terror zu überdenken: Wir sind als Gesellschaft nicht so machtlos, wie wir uns als einzelne Individuen fühlen. Da sich Terror einzig aus unseren Ängsten und Selbstzweifeln speist, ist er vollständig von uns abhängig. Hier können wir ansetzen und den Spieß umdrehen: Großen Schaden können wir dem Terror dann zufügen, wenn wir ihm kollektiv all das verweigern, was er braucht und bezweckt. Wenn wir nicht in Panik und Hass verfallen, dann verwehren wir ihm die Zuspitzung und die Dominanz, die er anstrebt. Gleichzeitig sollten wir dringend aufhören, ein über die kriminalistische Ermittlung hinausgehendes Interesse für Motive und Hintergründe individueller Einzeltäter zu entwickeln. Unser morbider Terror-Voyeurismus wirkt auf Bombenleger und Mörder wie Anerkennung, Belohnung und Anstachelung zugleich.

Zudem müssen wir nicht nach jedem erneuten Anschlag in Selbstzweifel verfallen und Angst vor unserer eigenen Offenheit und Freiheit haben. Wir können Anschläge nicht gänzlich verhindern, aber wir können gegen das Geschäftsmodell des Terrors in einen Generalstreik treten und aufhören, uns als Gesellschaft terrorisieren zu lassen. Mit jedem Schritt in diese Richtung entziehen wir dem Terror immer mehr genau die Aufmerksamkeit, die er braucht, um zu wirken. Wir können jeden einzelnen Anschlag zum Anlass nehmen, noch bewusster und intensiver genau das Leben zu führen, dass die Feinde der Freiheit so hassen: ein angstfreies Leben in einer Gesellschaft, die von Menschlichkeit, Offenheit und Solidarität nicht nur redet, sondern sie praktiziert und aktiv verteidigt.

Dieser Artikel ist am 18.4.2017 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.