Der nahende Untergang des IS ist ein Grund zur Freude. Doch der Terror wird weitergehen. Die internationale Staatengemeinschaft muss erkennen, dass das Problem kein regionales ist und sie selbst maßgeblich dazu beiträgt.
Erinnern Sie sich noch an die Erschießung von Osama Bin Laden im Mai 2011 und an die Freude und die Hoffnungen, die diese Nachricht im Westen auslöste? Zusätzlichen Mut geschöpft hatten die Menschen im Westen durch die Ereignisse, die man als „arabischer Frühling“ oder „Arabellion“ bezeichnet. Eine Wende zum Positiven schien möglich. Schnell wurde jedoch klar: Mit Bin Laden hatte der islamistische Terror lediglich sein vertrautes Gesicht verloren – und die westliche Politik ihren Fokus: Schließlich war es bequem, die Ergreifung bin Ladens als oberstes Ziel des Anti-Terror-Krieges zu postulieren und sich sagen zu können, die von ihm gegründete Al Kaida sei eine klassische „Organisation“, die man dadurch schwächt, in dem man ihr den Kopf abschlägt.
Wie naiv und gewollt wirkt im Nachhinein diese Freude! „Die Erschießung von Bin Laden als größten Erfolg des Anti-Terror-Krieges zu feiern, offenbart zum einen die völlige Verhaftung der Politik auf der Ebene reiner Symbolik, und zum anderen die schiere Ahnungslosigkeit, wie mit dem islamistischen Terrorismus wie auch mit dem von diesem inspirierten internen Terrorismus im Westen umzugehen ist“, schrieb ich im Mai 2011 in einem Artikel für den Schweizer Monat. Ich hoffte damals, dass man sich vielleicht nun der spannenden Frage zuwenden würde, „welche Gründe dafür verantwortlich sind, dass sich Einwanderer und muslimische Elite-Studenten im Westen zu nihilistischen Zeitbomben entwickeln?“ Um die Wurzeln dieses Problems freizulegen, muss man deutlich tiefer graben – nicht nur im arabischen Wüstensand.
Der IS ist nur eine Episode der Krise
Viel hat sich in den letzten sechs Jahren seit der Erschießung von Osama Bin Laden verändert. Al Kaida hat tatsächlich die Rolle der führenden globalen Islamisten-Marke eingebüßt. Auch die Organisationsform des losen Netzwerks ohne territoriale Dimension spielt nicht mehr die gleiche Rolle wie damals. Stattdessen hat eine Terrormiliz das Machtvakuum im Irak und im durch Bürgerkrieg und ausländische Interventionen zerrissenen Syrien genutzt, um Territorium samt lukrativen Öl-Raffinerien unter ihre Kontrolle zu bringen. Nicht, dass der „Islamische Staat“ Gebiete von anderen Staaten „erobert“ hätte – sie fielen ihm mehr oder minder kampflos in die Hände. Die Menschen vor Ort erhofften sich von den in die Städte einrückenden Rebellen Sicherheit und den Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur. Das Gegenteil trat ein: Der IS begann, die Städte auszupressen und die Menschen zu terrorisieren.
Es ist eine gute Nachricht, dass das 2013 vom IS ausgerufene Kalifat nach zahlreichen militärischen Niederlagen in den beiden letzten Jahren nun offensichtlich vor dem Zusammenbruch steht. Die nordirakische Millionenstadt Mossul ist zum größten Teil befreit, und auch die syrische IS-Hochburg Rakka wird dem militärischen Druck nicht mehr lange standhalten können. Doch letztlich bedeutet dies nur, dass ein weiteres Kapitel der Krise beendet ist, nicht aber die Krise selbst. Da der Aufstieg des IS die Krise nicht ausgelöst hat, wird auch sein Verschwinden sie nicht beenden. Die Ursachen liegen unter anderem im Zerfall der arabischen Staaten, die einst als autoritäre Bollwerke und Statthalter im globalen Kalten Krieg von strategischer Bedeutung waren und entsprechend von den jeweiligen Verbündeten aufgebaut und stabilisiert wurden. Mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation verloren diese Staaten ihre zentrale Bedeutung und degenerierten, sowohl politisch als auch zum Teil ökonomisch.
Das Kalifat auf den Ruinen westlicher Politik
Wenn wir heute auf das absehbare Ende des IS als territorialen Faktor im arabischen Raum blicken, sollten wir uns daran erinnern, dass die Miliz ihren Aufstieg nicht aus eigener Kraft bewerkstelligt hatte. Ein so brachial menschenverachtendes System konnte sich überhaupt nur ausbreiten, weil die Region bereits zuvor zerstört und zerrissen worden war. Vor der US-geführten Invasion des Iraks im Jahr 2003 gab es dort keine schlagkräftigen islamistischen Gruppierungen. Doch mit der faktischen Zerstörung des irakischen Staats öffnete sich ein Raum, in den nicht nur Terroristen einsickerten, sondern in dem auch Staaten wie Saudi-Arabien, der Iran und Russland eine Rolle spielen wollten, sich beinahe dazu genötigt sahen. Der IS wuchs als Ableger von Al Kaida im Irak ungehindert in dieses Vakuum hinein.
Der arabische Frühling, der die alten Regime erschütterte, öffnete Terroristen die Möglichkeit, um schnell Einfluss zu gewinnen. Hinzu kam, dass die westlichen Staaten, Russland, Iran, Saudi-Arabien und die Türkei aus jeweils eigenen Interessen heraus verschiedenste lokale Player unterstützten, was die Chancen der demokratischen Kräfte in der Region von vornherein vereitelte. Die zunehmend kopflose westliche Nahost-Politik führte dazu, dass kleine, obskure und mehr oder minder unbekannte, sogenannte „moderate Oppositionsgruppen“ im Kampf gegen den syrischen Diktator Baschar al-Assad mit Waffen ausgestattet wurden – was einer Frei-Haus-Lieferung für islamistische Terroristen gleichkam. Da sich Russland zudem anfangs zurückhielt und die Türkei eher gegen die Kurden – die stärksten regionalen Widersacher von Assad und IS – vorging, konnte die Terrormiliz ihren Einflussbereich schnell ausweiten. Als sich dieses regionale Gleichgewicht veränderte, war das Schicksal des Kalifats besiegelt.
Der Terror wird nicht verschwinden
Mit der Befreiung von Mossul und Rakka wird der Terror leider kein Ende nehmen – weder im Nahen Osten noch im Westen. Tatsächlich wird die internationale Einmischung in der Region ihren zumindest oberflächlich einigenden gemeinsamen Feind verlieren. Bislang weitgehend unter der Oberfläche brodelnde Konflikte zwischen den verschiedenen internationalen Kriegsparteien – der Begriff „Alliierte“ wäre hier schlicht falsch – dürften noch stärker zum Tragen kommen. Der Zerfall des IS führt die Region wieder auf die eigentliche Konfliktlage zurück. Nur ist der Konflikt mittlerweile noch stärker internationalisiert und irgendwo führt jeder gegen jeden Krieg.
Der Terror im Westen wird nach dem Untergang des IS ebenso nicht verschwinden. Auch wenn sich der IS immer schnell zu allen möglichen Anschlägen bekannte – davon auszugehen, dass es Drahtzieher im Nahen Osten bedurft hätte, um Anschläge im Westen zu initiieren, wäre naiv. Der „Islamische Staat“ war lediglich eine Art Franchise-Unternehmen. Sich darauf zu berufen, garantierte in jedem Falle maximale mediale Aufmerksamkeit. Der Niedergang des „Kalifats“ könnte den Terror im Westen sogar noch verstärken.
Die Entfremdung muslimischer Jugendlicher von einer sich zunehmend ängstlich abschottenden und die eigenen Werte verratenden westlichen Kultur, wird auch nach dem Fall von Rakka andauern und weiterhin für Nachschub an hausgemachten Terroristen sorgen. Die Anziehungskraft des IS, wie auch die von Al Kaida zuvor, hängt nicht von der Lage im Nahen Osten ab, sondern wird durch den menschenverachtenden Nihilismus und Relativismus der westlichen Gesellschaft gespeist. Da braucht es gar keine Flüchtlingsströme, in denen Terroristen unbemerkt nach Europa einsickern können.
Westliche Werte verteidigen
Wie Aufstieg und Niedergang des „Islamischen Staats“ zeigen, ist der Terrorismus ein globales Phänomen, das seine Energie wie auch sein Personal aus aller Welt importiert und auf Gedeih und Verderb vom politischen Scheitern der Großmächte in Ost und West abhängig ist. Die gute Nachricht lautet: Wir sind keine ohnmächtigen Opfer einer von außen eindringenden Gefahr, der wir nichts entgegenzusetzen haben. In dem wir auf die konsequente Verteidigung westlicher Werte und Freiheiten drängen und gleichzeitig die ängstliche Verlogenheit westlicher Außenpolitik anprangern, können wir unsere Gesellschaften vor dem inneren Niedergang bewahren und somit auch den Terrorismus von der materiellen wie ideellen Versorgung abschneiden.
Dieser Artikel ist am 9. Juli 2017 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.