Datenmissbrauch: Falsche Skandalisierung eines Skandals


Angesichts „datenbasierter Wählermanipulation“ sollte die Autonomie des mündigen Bürgers gestärkt werden. Doch die westlichen Eliten wollen sich effektiver vor der angenommenen Manipulierbarkeit der Wähler in Sicherheit bringen.

Kein Zweifel: Es ist weder gesetzeskonform noch akzeptabel, wenn Organisationen auf illegale Weise Menschen ausspähen und dann die so erlangten Informationen zu ihrem eigenen Vorteil nutzen oder sie an Dritte weiterverkaufen. Dabei ist es irrelevant, für was diese Informationen dann verwendet werden: ob Online-Kundenprofile erstellt werden für das Bewerben von Katzenfutter oder Präservativen, ob es darum geht, Tierversuchsgegner oder Veganer mit maßgeschneiderten Informationen zu versorgen, oder ob versucht wird, die Wahlentscheidungen von Menschen mit mehr oder weniger wahrheitsgetreuen Meldungen oder glatten Lügen zu beeinflussen.

Der unrechtmäßige Datenhandel ist der eigentliche Skandal

Es ist daher zu begrüßen, dass einer der Mitbegründer des Unternehmens Cambridge Analytica (CA), Christopher Wylie, selbst an die Öffentlichkeit gegangen ist und darauf hingewiesen hat, in welch großem Stil unerlaubt weitergegebene Daten von Facebook-Nutzern zur lukrativen Handelsware gemacht werden. Gegenüber dem britischen Guardian berichtete Wylie, das Geschäftsmodell von Datenanalysefirmen wie CA oder AggregateIQ bestünde darin, aus solchen Daten Persönlichkeitsprofile zu erstellen, um dann daraus maßgeschneiderte Werkzeuge zur psychologischen Beeinflussung („Targeting“) zu entwickeln.

Es ist gut, dass der unrechtmäßige Datenhandel ans Tageslicht gebracht wurde. Nur wenn solche Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte von Millionen von Menschen öffentlich thematisiert werden, kann das Problem bekämpft werden – im Sinne einer von selbstbestimmten Bürgern getragenen Demokratie. Doch genau hier biegt die politische Debatte in eine unheilvolle Richtung ab: Um die Schwere des Skandals zu unterstreichen, konzentriert man sich in erster Linie auf „Konsequenzen“ des bereits seit Jahren stattfindenden Datenmissbrauchs. Eigentlich wäre dieser Missbrauch allein schon Skandal genug, zumal er an beeindruckenden Zahlen festzumachen ist. Weit weniger klar und eindeutig ist es hingegen, wenn man sich auf die Konsequenzen fokussiert. Hier sind die Interpretationsspielräume groß. Und in diese Spielräume dringt der Zeitgeist ein, mit all seinem Zynismus, seiner Skepsis gegenüber großen Unternehmen und kleinen Leuten, und mit seinem ausgeprägten Hang zur apokalyptischen Stilisierung.

Manipulationsspekulationen gehen am Thema vorbei

Das Problem dabei: Nicht der eigentliche Skandal – der unzureichende Datenschutz und die unrechtmäßige Datennutzung –, sondern die Verwendungsziele und die angenommenen Konsequenzen bestimmen seither die politische Auseinandersetzung. Und hier schießen wilde Theorien ins Kraut: Dass nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Politik heute und in der Vergangenheit das Instrument des „Targeting“ zur Verbreitung eigener politischer Standpunkte nutzte, wurde zum willkommenen Anlass, um den eher abstrakten Datenmissbrauchsskandal flugs in einen handfesten politischen Manipulationsskandal umzudeuten. Diese Politisierung des Datenskandals geschah nicht zufällig, sondern gezielt: Zunächst hatte „Whistleblower“ Wylie behauptet, dass sein Ex-Arbeitgeber Cambridge Analytica (CA) unrechtmäßig 50 Millionen Daten von Facebook-Nutzern erworben habe, um diese für den Wahlkampf von Donald Trump zu missbrauchen. Anschließend verlautbarte Wylie, dass auch das knappe Votum der Briten für den Brexit auf „Betrug“ basiere. Bei CA, so Wylie, handele es sich um eine Art „privatisierte NSA“, deren Verstrickung „die Integrität des gesamten Brexit-Prozesses“ infrage stelle.

Es schien, als sei für Wylie die politische Verwendung der unrechtmäßig erhobenen Daten schlimmer als die Datenerhebung selbst. Und genau in dieser Art wurden Wylies Ausführungen auch diskutiert: Denn endlich schien es eine plausible Erklärung für das ungebührliche Verhalten großer Teile der Wählerschaft zu geben. Die abtrünnigen Wähler müssen von außen manipuliert worden sein. Solche Annahmen kommen wie gerufen in Zeiten großer politischer Verunsicherung und einer unterentwickelten Diskussionskultur bei gleichzeitig offen zu Tage tretenden Konflikten um die Meinungsführerschaft in den westlichen Gesellschaften. Die Theorie der massenhaften Wählermanipulation passt perfekt ins Bild der einerseits weitgehend entideologisierten und andererseits hochgradig emotionalisierten politischen Kultur unserer Tage. Es dient als Bestätigung der eigenen Haltung, wenn davon ausgegangen wird, dass die jeweils andere Seite letztlich nur ein Produkt von Manipulation und Fremdbeeinflussung ist. Dies macht dann auch eine selbstkritische Reflektion des eigenen Standpunktes überflüssig, geschweige denn eine offene Debatte oder gar einen Dialog mit dem Gegenüber.

Kindisches Parteien-Pingpong

Es ist bezeichnend, mit welche großer Dankbarkeit die Manipulationsthese von der Politik aufgegriffen wurde: Während das noch immer konsternierte Clinton-Lager den Ball nur zu gerne aufnahm und den Wahlsieg Trumps nun noch lautstärker als Folge gezielter Wählermanipulation darstellt, weisen Trump-Anhänger genüsslich darauf hin, dass schon Obama gezieltes Wähler-Targeting betrieben habe und dafür seinerzeit als Vorreiter moderner Wahlkampfführung gefeiert worden sei. Auch in Deutschland hat eine Debatte über die Wahlkampfmethoden der Parteien begonnen, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Dass auch hier Praktiken zu Tage gefördert werden könnten, die sich zum parteipolitischen Pingpong eignen, ist nicht auszuschließen. Laut einem Bericht der Bild am Sonntag soll die Deutsche Post der CDU und der FDP Daten zur Wahlkampfführung verkauft haben.

Doch dieses Pingpong macht nur deutlich, wie kindisch die politische Auseinandersetzung geführt wird. Das tatsächlich Problematische an der Manipulationsthese ist nicht die Frage, wer sich im größeren Stile Methoden wie des „Micro-Targeting“ bedient, um politische Ziele zu erreichen. Die gefährliche Wendung der Debatte besteht darin, dass aufgrund der emotional aufgeladenen Stimmung es mittlerweile unbestritten zu sein scheint, dass Datenanalysefirmen wie Cambridge Analytica tatsächlich in der Lage sind, den Ausgang von Wahlen zu beeinflussen. Eine bessere Werbung für diese Branche ist gar nicht vorstellbar.

Cambridge Analytica behauptet, man habe „ein Modell entwickelt, das die Persönlichkeit jedes Erwachsenen in den Vereinigten Staaten berechnen“ und in so in seiner politischen Ansicht verorten könne, wie die Wirtschaftsredakteurin Hanna Decker in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zitiert. Bis vor kurzem wäre diese Behauptung womöglich als großmäuliges Marketing-Sprech belächelt worden. Im Zeitalter von Verschwörungstheorien und einer permanenten Erregungskultur wird hingegen die Aussage für bare Münze genommen und ernsthaft kritisiert, dass Demokratie so letztlich nichts anderes mehr sei als ein Großmarkt für Wählerstimmen.

Überhöhung der Daten – Erniedrigung der Wähler

Was sich hier als ein irrationaler und völlig überzogener Glaube an die beinahe mystischen Fähigkeiten von Datenanalysten darstellt, deutet auf das eigentlich der ganzen Debatte zugrundeliegende Problem hin: Theorien dieser Art können nur verfangen, wenn man davon ausgeht, dass der moderne Wähler fast ohne eigene Überzeugungen und somit auch ohne eigene Schutzmechanismen gegen Fremdbeeinflussung „seine“ Entscheidungen trifft. Es ist eine Sache, ob man an die großspurig verkündeten Berechnungskünste von CA & Co. glaubt. Es ist aber eine andere Sache, ob man zudem auch noch der Meinung ist, dass aus den so berechneten Profilen wirksame Strategien zur Wählerumpolung von außen entwickeln werden können. Wer die Wähler für so leicht manipulierbar hält, sollte sich ernsthaft fragen, ob er nicht besser künftig direkt gegen das Veranstaltungen von freien Wahlen in die Debatte einsteigt.

Das Interessante an der Diskussion ist, dass alle heute prägenden politischen Strömungen genau dieses Misstrauen gegenüber den Wählern teilen. Anstatt Argumente zu zerpflücken, werden die Vertreter und Anhänger der jeweils anderen Seite diffamiert, beschimpft und lächerlich gemacht, wodurch die politische Kultur immer größeren Schaden nimmt. Bezeichnenderweise gibt es in aber einen Punkt, an dem eine parteiübergreifende Einigkeit festzustellen ist: nämlich in der Überzeugung, dass eine strengere Kontrolle von sozialen Netzwerken nötig sei, sowohl hinsichtlich ihres Geschäftsgebarens als auch hinsichtlich des Verhaltens ihrer Nutzer. Dass selbst eine Diskussion über Datensicherheit in der Forderung nach einer besseren Überwachung mündet, offenbart die Kraft des demokratieskeptischen Denkens auf allen Seiten.

Sich dieser Kraft entgegenzustellen, bedarf einer ausgeprägten humanistischen Robustheit: Die Demokratie wird sich jedenfalls dann positiv entwickeln, wenn die Bürger nicht vor „Beeinflussung“ beschützt werden, sondern vielmehr die Demokratie als „Kampfplatz der Ideen“ für sich selbst zurückerobern mit dem Ziel, Informationen unterschiedlicher Güte selbst zu verarbeiten und die eigenen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Zur Informationsfreiheit gehört immer auch das Recht, andere zu beeinflussen – und auch, selbst beeinflusst zu werden und damit umzugehen zu lernen. Eine andere Chance hat der Bürger nicht – es sei denn, er möchte einen Vorkoster in Anspruch nehmen. Hier zeigt sich die Reife einer demokratischen Gesellschaft – und zweifellos macht die Manipulations-Debatte deutlich, dass wir in dieser Hinsicht noch viel Luft nach oben haben.

Dieser Artikel ist am 1. April 2018 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.