Corona: Wider den panischen Superlativ!

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08.03.2020 – Eigentlich bietet das Coronavirus keinen Grund, um kollektiv in Panik zu geraten. Doch die Epidemie trifft auf eine Gesellschaft, die es sich angewöhnt hat, in Schwarz-Weiß-Schemata zu denken. Der Zeitgeist braut daraus Giftcocktails gegen Mäßigung, Mündigkeit und Menschenverstand zusammen.

Die halbe Welt ist infiziert. Glücklicherweise nicht mit dem Corona-Virus, das trotz wachsender Verbreitung keinen Grund bietet, um kollektiv in Panik zu geraten. Es ist der paranoid-panische Zeitgeist, der die Gesellschaft befallen und die Stimmungslage fest im Griff hat. Das Klima ist angespannt, die Menschen sind schreckhaft, dünnhäutig und offen für Überreaktionen.

Jeder von uns spürt diese seltsame Gefühlsmischung: Einerseits scheinen wir einer Kombination aus unterschiedlichen Bedrohungen ausgesetzt zu sein, gleichzeitig fühlen wir uns so wehrlos und schuldig wie selten zuvor. Andererseits sind wir schnell dabei, Witze zu machen über die vielfältigen Bedrohungen sowie über jene, die ihren Ängsten erliegen und Klopapiervorräte für das Jahr 2030 anlegen, ganz gleich ob aus Angst vor dem Virus, vor dem Klimawandel, vor den Neonazis, vor einer Migrantenschwemme oder einfach nur vor dem täglich näher rückenden Weltuntergang.

Die Angst vor dem Monster im dunklen Keller

Wenn wir versuchen, uns Mut zuzusprechen, behält der gesunde Menschenverstand für kurze Momente die Oberhand. Doch das beruhigende und befreiende Lachen bleibt im Halse stecken, sobald die nächste schlechte Nachricht über den Ticker läuft. Die Szenerie erinnert an kleine Kinder, die im dunklen Keller laut pfeifen, damit das Monster nicht aus der Ecke kommt.

Diese Angst vor Monstern übt einen enormen Druck auf das Individuum aus. Es braucht viel Kraft und eine gehörige Portion Widerspenstigkeit, um sich dem Zeitgeist entgegenzustellen. Dass der heute so stark wirkt, hat wenig mit den realen Bedrohungslagen zu tun. Sie helfen ihm nur, um in unseren Köpfen zu landen und sich dort festzukrallen.

Wir meiden Grauzonen 

Warum gelingt das dem Zeitgeist derzeit so gut? Die Antwort ist einfach: Wir haben dort ausreichend Platz geschaffen, sodass er sich in unserem Denken einnisten kann. In den vergangenen Jahren haben wir uns als Gesellschaft eine überaus oberflächliche Sicht auf die Welt angewöhnt. Wir wollen klare Positionen und eindeutige Gut-und-Böse-Schemata, wir meiden Komplexitäten und Grauzonen und sehen sie als Bedrohung unserer Orientierungs- und Handlungsfähigkeit.

Im Alltag schätzen wir übersichtliche Landkarten und meiden es, Dinge selbst zu erkunden oder zu entwickeln. Wir wollen nicht viel nachfragen oder Hintergrundwissen haben müssen. Von diesem Ballast und diesem Anspruch haben wir uns befreit, denn als viel erfüllender gilt es, einfach im Hier und Jetzt und aus dem Bauch heraus zu leben – und in Schlagwortketten zu denken.

Dem Zeitgeist wird’s zu bunt: Er sieht schwarz-weiß

Wir halten unsere Welt für so modernisiert und beschleunigt und aus den Fugen, dass wir vergangene Ereignisse entweder komplett ausblenden oder so verzerren, dass sie uns in unserem heutigen Denkschema zu bestärken scheinen. Die Schwarz-Weiß-Sicht auf die Welt ist ein zentrales Merkmal des Zeitgeists. In dem Hang, aktuelle Ereignisse zu dramatisieren, glauben wir, alles sei völlig neu und nie dagewesen, so schlimm wie niemals zuvor und von einer gänzlich neuen Qualität.

Gleichzeitig vereinfachen wir unsere Erklärungsmuster, die wir dann in ebenso banale Politikansätze gießen. Diese Vorgehensweise betrifft mittlerweile nahezu jede gesellschaftliche Entwicklung. Da wir uns auf oberflächliche Betrachtungen beschränken und historische Vergleiche nicht nur scheuen, sondern sie kaum mehr anstellen können, drängt sich das Gefühl auf, nie Dagewesenes zu erleben. Und dennoch ist es eigentlich immer falsch.

Mit Mundschutz zur Masernparty

Große Teile der Gesellschaft und der Politik verhalten sich, als hätten wir es noch nie mit potenziell gefährlichen Viren zu tun gehabt. Überreaktionen, Hamsterkäufe und Angstreflexe gegenüber Asiaten und Hustenden zeigen, dass wir uns und unseren Fähigkeiten nicht trauen, Risiken sinnvoll einzuschätzen und Probleme zu lösen. Da verdrängt wird, dass wir mit derlei Problemen in der Vergangenheit erfolgreich umgegangen sind, spüren wir nur deren Häufung und nehmen dies als Verschärfung der Lage wahr.

Anstatt also aus ähnlich gelagerten Erfahrungen zu lernen – wie dem Rinderwahnsinn, Sars, der Vogelgrippe, der Schweinegrippe oder Ehec, um nur einige aus den vergangenen Jahrzehnten zu nennen –, werden die gesellschaftlichen Reaktionen immer überzogener. Gleichzeitig aber werden die regulären Grippewellen, an denen jedes Jahr Zehntausende sterben, systematisch ausgeblendet und Kinder – jetzt eben mit Mundschutz – zur Masernparty gefahren. Dass wir trotz allem heute viel weiter sind in der Bekämpfung möglicher Epidemien, kann da kaum durchdringen, weil uns ja alles so neu und so anders erscheint als früher. Man hat das Gefühl, als sei schon der Versuch einer historischen Einordnung verboten – wegen der daraus entstehenden Gefahr der Verharmlosung.

Wider den panischen Superlativ!

Der Zeitgeist braut aus solchen Seuchen Giftcocktails gegen Mäßigung, Mündigkeit und Menschenverstand und schickt sich an, die Gesellschaft und unser Denken damit zu vergiften. Wie kann man diesem panisch-paranoiden und überreaktionären Zeitgeist entgegentreten?

Indem wir Abschied nehmen von der scheinbar so bequemen Kultur der Oberflächlichkeit. Lasst uns unsere Köpfe wieder mit mehr konkretem Wissen auffüllen – und nicht nur mit Wissen darüber, wie wir es ergooglen könnten –, denn nur so kann echtes Interesse entstehen. Historisches, politisches, ökonomisches, rechtliches, philosophisches, natur- und gesellschaftswissenschaftliches Wissen hilft dabei, die Welt zu verstehen und eigene Standpunkte zu entwickeln. Ruhe und einen eigenen und klaren Kopf bewahren, das ist heute die radikalste Form des Widerstands.

Dieser Artikel erschien am 8. März 2020 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online.

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