In der Adventszeit geht es um den Abschluss mit dem Alten und den Aufbruch ins Neue. Das erfordert die Bereitschaft, eigene Gewissheiten zu hinterfragen, und den Mut, zu neuen Ufern aufzubrechen. Immerhin: Der geistige Hausputz hat einen schönen Nebeneffekt.
Die Weihnachtszeit wird gerne als die Zeit der Besinnlichkeit beschrieben. Das sagt sich so leicht, auch weil es so schön klingt. In Wirklichkeit ist diese Jahreszeit jedoch für viele eher eine Zeit der Besinnungslosigkeit, in der schon die bloße Ankündigung, der Einzelhandel könne es wagen, die Ladentüren bereits drei Stunden, bevor das Christkind kommt, zu schließen, so manche heiligabendliche Krise auslöst. Vielen Menschen, die keine tiefe Verbundenheit zum christlichen Glauben spüren, wird die Hektik des ausklingenden Altjahres zu einer Zeit der Sinnlosigkeit, in der sie noch weniger zur Ruhe kommen als sonst. Dabei geht es bei der „Besinnlichkeit“ eigentlich tatsächlich um das Sinnige und Geistige: Sie wird in Wörterbüchern erklärt als „stimmungsvolle Zeit, in der Menschen zum Nachdenken und Innehalten kommen“.
Nun ist es nicht so, als gäbe es keine Gründe, um nicht zumindest einmal im Jahr gründlich und auch grundsätzlich über ein paar Dinge, Überzeugungen und Standpunkte, Pläne und Ziele nachzudenken, wenn möglich sogar über die eigenen. Innere Einkehr halten, geistige Inventur und möglicherweise sogar ein Hausputz im Oberstübchen – wann, wenn nicht jetzt?
Besinnlichkeit kommt von Sinn
Gerade in unserer Zeit, in der man schnell Gefahr läuft, zum „Messie“ im Geiste zu werden, wenn man sich nicht von altem Denken trennen kann, nicht einmal von widerlegten Wahrheiten. Und dennoch ist eine so verstandene Besinnlichkeit, die mehr mit Besinnung und Geist als mit Sinnlichkeit und Geistlichkeit zu tun hat, keine weitverbreitete Übung. Nicht, dass dies anderswo unbedingt anders wäre, jedoch deuten englische Begriffe für „Besinnlichkeit“, nämlich „contemplation“, „thoughtfulness“ oder „reflectiveness“, zumindest stärker auf den die Ratio mit einschließenden Ursprung des Begriffes hin.
Woran liegt es, dass wir so selten in unserem Denken ausmisten? Womöglich ist die Verbundenheit zu alten Wahrheiten gerade in Zeiten großer Umbrüche noch stärker, um nicht zu sagen, noch manischer ausgeprägt als ohnehin. Vielleicht suchen wir nach Bestätigungen dafür, dass eben nicht alles vom flatterhaften Zeitgeist verweht wird, dass es Glaubenssätze gibt, die Bestand haben. Diese Art der Bestandssicherung gewinnt dann eine zusätzliche Bedeutung, fernab vom eigentlichen Inhalt des Bewahrten: Sie hilft, das eigene Selbstbild und die Selbstverortung in der turbulenten Welt zu schützen und zu stärken.
So werden das Festhalten an und das aktive Verteidigen längst widerlegten Wissens und offensichtlicher Widersprüche zu einer Frage des eigenen Charakters, ja des Überlebens. Das erklärt auch, warum Werte wie „Toleranz“ oder „Vielfalt“ von einigen als persönliche Bedrohung wahrgenommen und damit falsch verstanden werden. Die eigene persönliche Identität steht hoch im Kurs, und im Gegensatz zum dynamischen Wissen gelten Identitäten vor allen Dingen dann etwas, wenn sie dazu geeignet sind, die Wogen des Neuen an sich abprallen zu lassen. Das Infragestellen eigener Grundüberzeugungen und die kritische Selbstreflexion sind einfach nicht Teile der gelernten Identitätsbildung.
Jenseits von Gedenken und Bedenken
Hinzu kommt, dass Denken in grundsätzlichen Kategorien bei uns entweder auf die Vergangenheit gerichtet ist oder aber die Zukunft als etwas ins Visier nimmt, das mit Vorsicht zu behandeln ist. Zu den am stärksten verbreiteten Denkformen gehören daher einerseits das Gedenken – gemeint ist das Sich-bewusst-machen geschichtlicher Ereignisse und das Ableiten von Lehren hieraus – und andererseits das Bedenken, in dem auf Basis des eigenen Erfahrungsschatzes zukünftige Risiken und Nebenwirkungen des eigenen Handelns fokussiert werden.
Diesen beiden Denkformen sind zwei Aspekte gemein: Sie sind im Wortsinn konservativ, und sie machen nicht fröhlich. Sie tragen dazu bei, dass das Denken insgesamt wie eine alles andere als erleichternde und leichtfüßige Tätigkeit erscheint. Dieses so interpretierte Denken macht nicht frei, sondern schwermütig, und wer ein Problem mit Schwermut hat, der findet auch schwer Mut.
Die Geduld schwindet
Vielleicht macht es Sinn, sich auf die Besinnung und die Sinnsuche als klassische Dimension der Besinnlichkeit neu zu besinnen und sie mit neuem Leben zu füllen. Denn gerade in Umbruchzeiten ist das Aufbrechen zu neuen Ufern und das Aufbrechen alter gedanklicher Verknöcherungen keine theoretische Übung im stillen Kämmerlein, sondern passiert ohnehin: Alte Gewissheiten verlieren an Relevanz, alte Zusammenhänge lockern sich, alte Überzeugungen erscheinen plötzlich in einem anderen Licht und Widersprüche treten offener zutage.
Gleichzeitig ist festzustellen, dass die Geduld schwindet, sich mit eben diesen Widersprüchen und offensichtlichen Ungereimtheiten, aber auch mit vorgegebenen engen Denkschablonen und Gedankengängen abzufinden. Gerade in den vergangenen zwei Jahren sind diese Unruhe und Ungeduld in den westlichen Gesellschaften deutlich zu spüren gewesen; gelegentlich entladen sie sich in Unmutsäußerungen auf den Straßen oder in den Wahllokalen, beinahe immer aber in den eigenen Köpfen, in die hineinzuschauen der Politik zunehmend schwerer fällt.
Denken macht frei, wenn man es selbst tut
Man spürt eine gewisse unterirdische Protesthaltung, ein dumpfes Grollen, einen tiefsitzenden und stärker werdenden Unmut mit den öffentlich präsentierten Wahrheiten und Möglichkeiten. Gelegentlich gelangen diese Gefühlswallungen an die Oberfläche und fegen entweder sicher geglaubte Kandidaturen oder gar ganze Parteisysteme hinweg. Gleichzeitig aber fehlt häufig eine genaue Vorstellung davon, wie Dinge denn anders zu machen oder aber anders zu denken sein könnten. Anders denken wäre wichtig, entsteht aber nicht einfach dadurch, dass gegenwärtiges Denken abgelehnt wird.
Es braucht neue Ansätze, ansonsten bleiben nur alte Denkweisen oder die grundsätzliche Abkehr vom Denken als Alternativen. Die Entwicklung der politischen Kultur in Deutschland zeigt, wie notwendig mutige neue Denkansätze wären. Diese aber ausgerechnet von „denen da oben“ zu erwarten, zeigt, wie groß das Problem wirklich ist. Erwarten hat immer etwas mit Warten zu tun. Aber warum sollte darauf gewartet werden, dass diejenigen, von denen ohnehin wenig erwartet wird, ein neues Denken vorantreiben? In einer Demokratie geht im Idealfall nicht nur die Macht von den Menschen aus, sondern auch das Denken. Hinzukommt: Denken macht nur dann frei, wenn man es selbst tut.
Auf Grundlage einer solchen, optimistischeren Sichtweise wird der Hausputz im eigenen Denken zu einer ganz anderen und viel interessanteren Tätigkeit. Interessanter, weil es schnell auch mal ans Eingemachte geht. Wir leben in einem Universum gedanklicher Widersprüche, die aufzulösen oder überhaupt erst einmal zu orten auch schmerzhaft sein kann. Es ist genau diese Auseinandersetzung mit dem modernen Denken, die ich die „Jagd auf den Zeitgeist“ nenne. Für diese Anstrengung braucht es Gründe, und zwar solche, die mit einem selbst zu tun haben, und mit der Zukunft, und am besten noch mit der Frage, wie man selbst auf die Zukunft Einfluss nehmen kann. Denken kann frei machen, wenn es sich über Denk- und Frageverbote hinwegsetzt, wenn man die ausgetretenen Pfade des gängigen Denkens verlässt und Gedankenexperimente zulässt.
Querdenken und Schräghandeln
Die Welt ist voller Fragen, die zu stellen schon ausreicht, um das eigene Nachdenken in Gang zu setzen. Nicht umsonst sind wir homo sapiens sapiens, also besonders verstehende, besonders verständige und auch besonders kluge Menschen. Natürlich sind wir alle verschieden, und auch unterschiedlich verständig und klug. Aber das Potenzial haben wir alle. Es steckt in unserer Fähigkeit zu denken. Der Kabarettist Vince Ebert hat den Satz „Denken lohnt sich“ geprägt und meinte damit gerade auch das Querdenken und Schräghandeln: ausbrechen aus der Routine, eigene Wege gehen, Fragen stellen, abends Aronal und morgen Elmex benutzen.
Zu Weihnachten ließe sich noch hinzufügen: Essen Sie doch einmal zu viel und machen Sie es sich bequem, aber ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Und gönnen Sie sich den Luxus, einmal wieder in Ruhe nachzudenken, über die Welt, über sich selbst, und über die Zukunft und was alles werden kann, wenn sie es wollen. Dann wird Besinnlichkeit zu einer Zeit der Besinnung. Und dann macht Denken auch fröhlich und frei.
Dieser Artikel wurde zuerst am 10. Dezember 2017 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online veröffentlicht.