23.02.2020 – Als politischer Bürger braucht man dem Untergangsgeheul und dem politischen Tremor des Establishments keine überhöhte Bedeutung beimessen. Vielmehr ist es höchste Zeit, Abschied zu nehmen von den versteinerten Hülsen der alten Parteienlandschaft.
Kürzlich gestand mir meine zwölfjährige Tochter, sie habe ein neues Anti-Lieblingsfach. Ich ahnte, was kommt. Seit kurzem steht bei ihr „Powi“, also „Politik und Wirtschaft“ auf dem Stundenplan. Auf Nachfrage äußerte sie den Verdacht, sie werde nun sicherlich dazu verdonnert, Nachrichten zu hören, was sie bis heute systematisch vermied. Auf meine Frage, was denn so schlimm sei an den Nachrichten, schaute sie mich fast entgeistert an und sagte „Na, die Nachrichten!“, um dann folgende Erklärung zu liefern: „Du hörst immer nur, wenn ein Feuer ausbricht, nie, dass es gelöscht wird. Die sagen nur, wie viele Menschen das Coronavirus haben und nie, wie viele wieder gesund werden. Es sind immer nur schlechte Nachrichten. Das macht mir Angst.“
Was soll man darauf erwidern? Selbst mir, einem eingefleischten News-Junkie, fiel nichts wirklich Adäquates ein. Warum sollte ich meine Tochter dazu animieren, sich mit zwölf schon eine Überdosis Zynismus und Frustration einzupfeifen? Nein, ich äußerte Verständnis für ihre Haltung. Mit zwölf muss man sich das nicht antun. Die Welt ist für Mädels in dem Alter auch ohne Marietta Slomka schwierig genug. Ich erklärte ihr, dass es ok sei, wenn sie sich jetzt dafür nicht interessiert. Als Erwachsene könne sie ja später Politiker wählen, die mehr Geld für medizinische Forschung bereitstellen, was dann für mehr gute Nachrichten sorgen könnte. Um diese Wahlentscheidung zu treffen zu können, sollte man dann wissen, was in der Welt vor sich gehe. Da gab sie mir wiederum Recht.
Erst Abriss, dann Neubau
Ich hoffe, ich habe ihr nicht zu viel versprochen. Es ist eine schöne Vorstellung, dass sich Politiker um derart gewichtige Fragen kümmern. Im Moment ist das nicht wirklich der Fall. Die Politik in Deutschland dreht sich um sich selbst und auf der Stelle, was die beste Methode ist, um schnell im Morast zu versinken. Manch einer mag die hier entstehende Dynamik als Indiz für die Lebendigkeit der politischen Kultur deuten. Für mich ist es eher ein Krankheitssymptom: Schnelle und unkontrollierte Bewegungen ohne Ortswechsel und Orientierung nennt man Zittern. Nur Zyniker können in dem Abriss der ohnehin seit langem morschen politischen Parteienordnung schon die Anzeichen einer Erneuerung sehen. So schnell geht das aber nicht. Wer auf einer Baustelle die Abrissbirne bedient, ist nur in den seltensten Fällen Architekt. Und dennoch ist sein Job wichtig.
Wir sollten ehrlich zu uns sein. Die Thüringer Tänze, der Rumba um Bodo Ramelow, das vorzeitige Scheitern von Annegret Klins… äh, Kramp-Karrenbauer sowie die Wiederkehr der bereits vor vielen Jahren beerdigten Merkel-Widersacher Friedrich Merz und Norbert Röttgen als politische Untote ohne Hoffnungsträgeranspruch: All das taugt nicht, um einen Aufbruch zu simulieren. Genauso gut könnte man Prinz Charles als jugendlichen Thronfolger der britischen Monarchie feiern und zu seinem 72. Geburtstag einen royalen Fridays-for-Future-Umzug veranstalten. Fakt ist: In Thüringen ist die Abrissbirne am Werk. Es ist höchste Zeit, Abschied zu nehmen von den versteinerten Hülsen der alten Parteienlandschaft. So ein Abschied will wirklich verstanden und gebührend gefeiert werden. Ein Abschied ist noch lange kein Neubeginn. Er ist aber eine wichtige Vorbedingung.
Die Angst vor den verdrossenen Wählern
Über viele Jahre hinweg schien sich die innere Mumifizierung der deutschen Politik nicht tiefgreifend auf die Machtverteilung auszuwirken. Die Verhältnisse zwischen den Parteien veränderten sich vergleichsweise wenig, was vor allem daran lag, dass diejenigen, die mit dem System nicht mehr viel anfangen konnten, von ihrem Recht auf Nichtwählen Gebrauch machten. Jahrzehntelang wurde die Politikverdrossenheit und die sinkende Wahlbeteiligung zwar öffentlich betrauert, doch eigentlich hatte man sich in diesem System ganz gut eingerichtet. Das wurde dann deutlich, als es mit der „Alternative für Deutschland“ plötzlich einer politischen Formation gelang, Wahlabstinenzler in größerer Anzahl zurück an die Wahlurnen zu locken.
Was oberflächlich betrachtet als eine Stärkung der Demokratie hätte gefeiert werden müssen, offenbart die tatsächliche Schwäche der etablierten Parteien. Diese hatte sich daran gewöhnt, die offiziellen Repräsentanten der Republik zu stellen und dabei – von kurzen Störfeuern abgesehen – unbehelligt zu bleiben. Der plötzliche Rückfluss verdrossener Wähler hat die Arithmetik, mit der sich über Jahre Stabilität und Routine vorgaukeln ließ, unbrauchbar gemacht. Die Ereignisse rund um die Wahl des thüringischen Ministerpräsidenten machen deutlich, wie weit der Zerfall der alten politischen Parteien fortgeschritten ist. Ihr Rückhalt in der Bevölkerung ist mittlerweile so sehr geschrumpft, dass inhaltlich begründete Kooperationsverweigerungen der „demokratischen Parteien“ mit der AfD mittlerweile die Bildung von Mehrheiten fast unmöglich machen. Diese Sklerose betrifft nicht nur die ehemaligen Volksparteien CDU und SPD, sondern auch FDP und Bündnisgrüne. Letztere beziehen zwar ihren Wählerzuwachs im Westen zwar aus den Milieus dieser Parteien, werden aber gerade dadurch 40 Jahre nach ihrer Gründung selbst mehr und mehr zu einer Alt-West-Partei.
Flucht aus der verwesenden Mitte
Die Stärke der Partei Die Linke in Ostdeutschland ist, wie auch das Wachstum der AfD, ein Symptom des Scheiterns der alten, vor 30 Jahren importierten westdeutschen Parteisystematik. Beide sind gewissermaßen miteinander konkurrierende Auffanglager für politische Inlandsflüchtlinge. Will man deren Zulauf verhindern, muss man die an Fluchtursachen ran, und diese liegen u.a. in dem immer penetranter werdenden Verwesungsgeruch, der aus der „politischen Mitte“ aufsteigt. Die derzeit so viel zitierte wie inhaltsleere „Hufeisentheorie“ macht den Bock zum Gärtner: Ihr zufolge wird die blühende deutsche Mittelerde völlig ohne jeden Grund von extremistischen Eindringlingen umgepflügt. Tatsächlich ist die Dynamik eine ganz andere: Die alte Mitte, in der sich sieche Angstparteien auf den Jesuslatschen herumtrampeln, lässt immer mehr Menschen die Flucht ergreifen.
Dies ist keine deutsche oder gar thüringische Entwicklung. In ganz Europa fliehen die Menschen aus dem moderigen Mainstream und sorgen dafür, dass die einstige Mitte in sich zusammenstürzt. Der französische Präsident Emmanuel Macron stützt seine Macht nicht nur auf dem Niederprügeln protestierender Gelbwestenträger, sondern auch auf den Ruinen des alten Establishments. In Großbritannien haben die Wähler aus lauter Verdruss gegenüber den alten Apparaten gleich das gesamte Land aus der EU herauskatapultiert. Auch in Italien und Spanien kann von stabilen politischen Verhältnissen nicht die Rede sein. Der gesamte alte „Westen“ – und in dieser Hinsicht ist US-Präsident Donald Trump tatsächlich sein Anführer – sitzt auf einem Trümmerhaufen, der wohlgemerkt nicht Bombardements fremder Mächte geschuldet ist, sondern dem eigenen blinden Vertrauen darauf, dass alles immer so weitergehe wie bisher. Einzig Deutschland schien sich noch recht lange hermetisch vor dem Zerfallsvirus abriegeln zu können. Tatsächlich aber brodelt es seit längerem unter der Oberfläche der proklamierten Alternativlosigkeit, und genau dies lässt nun den Eispanzer bröckeln, der die deutsche Demokratie seit vielen Jahren tiefgefroren hatte.
Für einen gesellschaftlichen Klimawandel!
All dies mag man als Ende einer Ära betrauern – man kann es aber auch als notwendige Vorstufe eines Neubeginns interpretieren. Dies ist der wirklich spannende gesellschaftliche Klimawandel, den jeder von uns beobachten kann. Wir wissen nicht, wohin die Reise geht. Und genau dies ist die eigentliche Dynamik und auch die Stärke der Idee der Demokratie. Nichts ist unwiderruflich, nicht ist unumkehrbar, denn in der Demokratie entscheiden politische Mehrheiten, keine Parteien, Ethnien, Identitäten oder Glaubensbekenntnisse. Ein Bruch mit der Vergangenheit ist nur für diejenigen ein Weltuntergang, die sich die Zukunft nur als Verschlechterung der Gegenwart vorstellen können. Als politischer Bürger sollte man diesem Untergangsgeheul und dem politischen Tremor des traditionellen politischen Establishments keine überhöhte Bedeutung beimessen. Die Politik der alten Form hatte sich ohnehin lange überlebt und sich von den Wählern abgeschottet. Warum ihr nun Tränen nachweinen?
Man muss sich in dem Trauerspiel, ob nun in Thüringen oder in Berlin, auch nicht auf die eine oder andere Seite schlagen. Im Gegenteil: Wer das tut, läuft Gefahr, die Weite des Horizonts aus dem Blick zu verlieren und sich erneut von der Vergangenheit gefangen nehmen zu lassen. Es ist geradezu rückwärtsgewandt, sich solchen Parteien verbunden zu fühlen. Und nicht nur das: Es ist auch im eigentlichen Sinne unpolitisch. Denn mit dem, was politisches Denken und Handeln ausmacht, haben diese Parteien nicht nur nichts mehr zu tun, sie fürchten sich sogar davor. Demokratische Politik lebt nicht von oder für Wahlgänge, sie lebt vor allen Dingen dazwischen. Erst so werden Wahlen zu einer demokratischen Veranstaltung. Und neues politisches Leben wird auch neue politische Organisationsformen entwickeln. Ich hoffe, dass wir in dieser Hinsicht ein wenig weiter sind, wenn meine Tochter 18 wird. Bis dahin muss die Losung lauten: Beerdigt die Parteien! Die alte Politik ist tot! Lang lebe die Politik!
Dieser Artikel erschien am 23.2.2020 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online.
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