Auch außerhalb des Mainstreams kann man ertrinken

Der Mainstream ist für viele ein reißender Strom, für andere ein modriges Gewässer. Doch sich wirklich von ihm befreien kann nur, wer auch die Hysterie überwindet.


Wir leben in emotionalisierten Zeiten: Wut, Empörung, Entsetzen, Fassungslosigkeit, Angst und Betroffenheit prägen das Klima – und dies nicht nur an den politischen Rändern der Gesellschaft. Bedachtheit im Umgang mit Problemlagen und eine rationale Analyse von Herausforderungen gelten zumeist als überflüssiger Luxus. Es eilt! Und wenn etwas eilt, hat man keinen Spielraum für Erörterung und Widerspruch. Wer in Krisenzeiten zur Ruhe mahnt, gilt als Beschwichtiger und potenzieller Verharmloser. Die Frage, warum alles so eilig ist, wird gerne mit dem Verweis auf den Megatrend „Beschleunigung“ erklärt – freilich, ohne diesen zu hinterfragen: Wir glauben, keine Zeit zu haben, um zu klären, ob und warum alles immer schneller wird oder ob es uns nur so vorkommt. Das Gefühl, überrollt zu werden, ist real. Woher es kommt, ist ja letztlich auch egal, oder?

Geschwindigkeit ist relativ

Nein, ist es nicht egal. Unsere Wahrnehmung von Geschwindigkeit ist relativ. Es kommt darauf an, von wo aus man sie betrachtet. Dass sich die Erde mit rasanter Geschwindigkeit um sich selbst dreht, spüren wir nicht. Die eigene Grundgeschwindigkeit spielt eine Rolle, aber auch die eigene Einstellung und Erfahrung. Fahranfänger können in ihrer ersten Fahrstunde bei einer Geschwindigkeit von 30 Stundenkilometern kaum die Kontrolle über das Fahrzeug behalten. Aber selbst für erfahrene Autofahrer fühlen sich bei 150 Stundenkilometern in einem Kleinwagen schneller an als in einem SUV. Je aktiver und einflussreicher die eigene Rolle, je direkter der Zugriff und je größer Zuversicht und Zutrauen, desto weniger erscheinen uns Geschwindigkeit und Veränderung als bedrohlich. Je mehr wir uns aber als ohnmächtige und gefährdete Objekte von Veränderung sehen, desto unangenehmer und beängstigender wirkt sie auf uns.

Auf die Gesellschaft übertragen bedeutet das: Je mehr sich Menschen von den großen Entwicklungen „abgehängt“ fühlen, desto mehr nehmen sie diese als Bedrohung war. Als eine solche „große Entwicklung“ gilt zum Beispiel die Globalisierung: In der Reaktion auf diesen Megatrend vereinen sich das Gefühl beängstigender Beschleunigung, der Verlust regionaler und menschlicher Bezüge, die empfundene Entfremdung und die eigene Hilflosigkeit zu einer Geisteshaltung, in der die Offenheit für andersartige Standpunkte rapide abnimmt. Um solchen Konfrontationen aus dem Weg zu gehen, schwimmen viele Menschen im Strom gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse mit und bewegen sich auch inhaltlich innerhalb dieser Grenzen. Wenn ihnen das gelingt, relativiert sich das Gefühl für die eigene Geschwindigkeit, vorausgesetzt, man vertraut der Strömung. Doch die Anzahl derer, die genau dies nicht mehr können oder wollen, wächst. Wie Schiffbrüchige klammern sie sich an den Rändern des Mainstreams an allem fest, was Halt verspricht. Und die Nachfrage nach Halt steigt.

Strom oder Strudel?

Doch das ist nur eine mögliche Sichtweise. Denn das, was viele als rasante Beschleunigung wahrnehmen, die alles wegreißt und entwurzelt, ist in den Augen anderer nichts als sumpfiges, stehendes Gewässer: ohne jede Strömung und ohne jede Hoffnung auf Bewegung. Ihnen ist das „Weiter-so“ als Symbol des Stillstands und der Stagnation zuwider. Der Ausbruch ist für sie eine Befreiung aus dem lähmenden Phlegma der Alternativlosigkeit, und sie wünschen sich, dass Probleme nicht mehr verschleppt und ausgegessen, sondern endlich ihrer Dringlichkeit entsprechend angegangen werden. Es ist interessant zu beobachten, wie unterschiedlich Interpretationen sein können: Was den Einen zu schnell geht, scheitert für die Anderen daran, dass sich überhaupt nichts bewegt. Zuweilen verschwimmen sogar beide Lesarten. Und auch für diese Kombination gibt es ein Vorbild: Eine starke Strömung, die sich nicht vom Fleck bewegt, nennt man: Strudel. Und auch in einem Strudel kann man ertrinken.

Dass Menschen sich den Automatismen der gesellschaftlichen Bewegung widersetzen, ist durchaus gut. Die wachsende Bereitschaft, nicht mehr einfach nur mitzuschwimmen – ob nun stromabwärts oder im Kreis, ist dabei zweitrangig –, kann eine Bereicherung der gesellschaftlichen Vielfalt bedeuten. Es zeigt, dass mehr Menschen selbst wieder mitentscheiden wollen, wohin die eigene Reise geht. Wichtig ist nur, dass man am Ende nicht im Morast hängenbleibt oder wieder ins Wasser zurückfällt, sondern auf den eigenen Füßen zum Stehen kommt und sich dann seinen eigenen Weg sucht. Ob jemand den Mainstream als reißenden Strom oder als stehendes Gewässer wahrnimmt, wird man an dem Weg ablesen können, den er nach der erfolgreichen „Flucht“ einschlägt.

Hysterie ist ein Produkt der Alternativlosigkeit

Heute ist es en vogue, die Abkehr vom Mainstream in Form drastischer und zuweilen hysterischer Überspitzungen zu begründen mit dem Ziel, Menschen aufzurütteln. Das ist nachvollziehbar, und dennoch erweckt dieser Hang zur politischen Dramatisierung einen falschen Eindruck: Er suggeriert, dass Politik vorrangig auf einem gepflegten Nichtstun basiert und darauf, dass man lieber sich selbst reden hört als Entscheidungen trifft. Ich halte das für eine gefährlich einseitige Einschätzung, denn so erscheinen Zuspitzung, Hysterie und auch Unbedachtheit als probate Mittel im Ringen um positive Veränderungen. Tatsächlich aber ist genau die zu beobachtende Hysterie ein Produkt der jahrelang gepredigten Alternativlosigkeit: Gründliche Erörterungen und die Bereitschaft zur kontroversen Diskussionen erschienen lange Jahre als unnötig und überflüssig und waren unerwünscht – und zwar nicht etwa aus Mangel an Zeit, sondern aus dem Mangel an Alternativen.

Ein genauerer Rückblick auf die Politik der Alternativlosigkeit der vergangenen Jahre zeigt zudem, dass auch hier das Motiv des „Zeitmangels“ sehr gezielt eingesetzt wird, um Debatten abzuwürgen. Das bekannteste Beispiel dürfte der deutsche Atomausstieg sein, der 2011 von der Merkel-Regierung nach dem Reaktorunfall an der japanischen Ostküste beschlossen wurde. Das Handeln der Regierung in dieser Situation erinnert an das Verhalten von blutigen Fahranfängern, die erstmals mit einem Problem konfrontiert werden: Hektische und unbedachte Umsteuerungsbewegungen wider jede Logik tragen nicht zur Lösung von Problemen bei, sondern schaffen grundlos neue. Ähnlich amateurhaft agierte die Regierung Merkel im Sommer 2015, als sie sich davor scheute, die Bevölkerung angesichts der sich auf dem Balkan sammelnden Flüchtlingsströme inhaltlich vom eigenen Kurs überzeugen zu wollen – offenbar aus hysterischer Angst davor, man könne daran scheitern. Der glaubhaft beschwörbare Zeitdruck kam der Regierung gelegen, um der notwendigen Diskussion aus dem Wege zu gehen.

Für eine neue Mündigkeit jenseits der Hysterie

Hysterie und Dramatisierung sind also keineswegs nützliche „Gegengifte“ im Kampf gegen den politischen Mainstream, im Gegenteil: Viele Menschen argumentieren zwar, dass die aktuelle Missbrauchsdebatte nach Jahren des Stillschweigens und Aussitzens ein zu begrüßender Aufbruch in Richtung von mehr Gerechtigkeit und Transparenz sei. Doch das um sich greifende „#meetoo-Phänomen“ zeigt die gefährlichen Konsequenzen einer zügellosen Hysterisierung: Es ist atemberaubend, welche moralische Aufwertung die eigentlich vielfach skeptisch beäugten politischen Autoritäten erfahren, wenn Menschen jedes Gespür für das wirkliche Ausmaß von Problemen verlieren. In der gegenwärtigen Missbrauchs-Massenpanik genügt mittlerweile ein einfaches Fingerheben, um der scheinbar unangefochtenen Gruppe der „Opfer“ beizutreten – ebenso wie ein einfacher Fingerzeig genügt, um Sicherheitsbehörden auf „Täter“ anzusetzen. In einem so aufgeheizten Klima sind Dissens und Diskurs fast unmöglich.

Die um sich greifende Opferorientierung ist die Fortsetzung der im Mainstream gelernten unkritischen Anpassung an das scheinbar Alternativlose – und sie holt viele Mainstream-Flüchtlinge endgültig zurück ins Obrigkeitsdenken. #meetoo zeigt, wie wichtig die Befreiung aus dem Mainstream ist. Aber das allein reicht nicht. Auch der Hang zur Hysterie, der immer auch von einem anerzogenen Gefühl der Ohnmacht gespeist wird, muss überwunden werden. Dies vor allem, um nicht an den Rändern des Mainstreams politischen Schlepperbanden in die Hände zu fallen, die Angst und Schrecken verbreiten, um die Menschen in genau der Opferrolle zu bestärken, der sie eigentlich entfliehen wollten. Dieser Hysterie zu widerstehen, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg in eine neue Unabhängigkeit und eine neue Mündigkeit im Denken.

Dieser Artikel ist am 12. November 2017 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.