Amnesia vor, noch ein Tor!

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Wieder einmal erzürnt sich Deutschland über (nicht-)singende oder über dunkelhäutige und -haarige deutsche Fußballer. Der Ball ist rund, und die Gesellschaft dreht sich im Kreis.


„Wer die Hymne nicht mitsingen will, der braucht auch nicht für die Nationalmannschaft spielen.“ So und ähnlich klingt manch aufgebrachter und scheinradikaler Diskussionsbeitrag zur Hymnendebatte. Diese brandet im Zweijahresrhythmus immer dann auf, wenn sportliche Großereignisse wie Fußball-Europa- oder Weltmeisterschaften anstehen, bei denen inbrünstig die eigene Hymne intonierende Sportler anderer Nationen über unsere Mattscheiben flimmern.

Interessant bei der Hymnendebatte ist das Vergessen

Das einzig wirklich Interessante an dieser Debatte ist die mit ihr verbundene Amnesie. Denn es scheint, als würde die Erinnerung daran, sich ob dieses Themas schon einmal erregt zu haben, mit der Neuauflage der Thematik sofort von der eigenen Festplatte gelöscht. Dies führt dazu, dass es keine Erinnerungsbremse gibt, die das eigene Erzürnen einhegen könnte. Immer wieder kann so ohne Reibungsverluste der alarmierende Verfall der patriotischen Sitten beklagt und die dringende Notwendigkeit einer Wiederbelebung des Nationalstolzes beschrieben werden. Praktisch wäre eine solche Amnesie für Teetrinker: Beim zweiten Aufguss desselben Beutels sofort vergessen zu haben, wie die erste Tasse geschmeckt hat, taugt zum Geschäftsmodell.

Ein wenig erinnert mich dies an meine eigene Amnesie, die ich in Bezug auf Filme entwickelt habe und die mir im Fernsehalltag unglaubliche Vorteile verschafft. Meine Spielfilm-Amnesie erlaubt es mir, Filme immer wieder zu sehen, da ich Handlungsverläufe und Pointen immer wieder vergesse. Meine Amnesie taugt zwar nicht zum Geschäftsmodell, hat aber einen anderen entscheidenden Vorteil: Sie schont meine Nerven, die sich ansonsten an den kürzer werdenden Abständen zwischen zwei Filmwiederholungen im deutschen Fernsehen reiben müssten. So aber kann ich mit diesem Umstand recht gut leben.

Politische Amnesie

Die um sich greifende politische Amnesie ist jedoch alles andere als nervenschonend. Denn da vergangene Ereignisse kaum mehr erinnert werden, fehlt auch immer häufiger die Fähigkeit, aktuelle Entwicklungen in einen historischen Zusammenhang einzuordnen und zu relativieren. Bedauerlicherweise aber lässt sich aus dieser Amnesie durchaus ein politisches Geschäftsmodell entwickeln. Das Schüren von Erregungszuständen kann ungeachtet historischer Parallelen vorangetrieben werden, die Erinnerung als beruhigendes Korrektiv ist sozusagen aus dem Weg geschafft.

Für politische Ambitionen, die auch in anderen Bereichen einen zum Putzzwang neigenden Umgang mit der Geschichte pflegen, ist dieser konstruktive Umgang mit politischer Amnesie sozusagen ein echtes „Heimspiel“. Das Verwischen von Erinnerungen als Beitrag zur Rechtfertigung einer heutigen politischen Ansicht kennen wir aber genauso aus anderen politischen Zusammenhängen. Oder wann haben Sie zuletzt etwas vom Waldsterben gehört? Erinnern Sie sich noch daran, dass man in den 1970er-Jahren Ängste vor einer unmittelbar bevorstehenden Eiszeit schürte? Und wann ist eigentlich der Rinderwahnsinn abgeebbt? Ist eigentlich nach der letzten so erfolgreichen Weltmeisterschaft das Land monatelang im Nationaltaumel ersoffen?

Fußballer und die Hymne: eine grausame Historie

In Bezug auf die Hymnendebatte und das so vehement kritisierte Nichtsingen des Deutschlandliedes durch einige (wenige) Spieler reicht ein flüchtiger Blick in die Vergangenheit, um die offensichtliche Haltlosigkeit der Erregung aufzudecken. Deutsche Fußballer haben eine grausame Historie, was das Singen anbelangt. Und damit ist nicht das Singen der Hymne gemeint. In den 1970er und 1980er-Jahren war es Pflicht, dass deutsche Mannschaften vor Weltmeisterschaften einmal bei laufenden Tonbändern in einem Tonstudio aufzulaufen und hörbare Nachweise zu erbringen hatten, dass nicht nur Lippen bewegt, sondern Stimmbänder in Schwingung versetzt wurden.

Welche katastrophalen Folgen das Anhören der so entstandenen Aufnahmen hatte, ist offenbar ebenfalls in Vergessenheit geraten. Eigentlich ist das auch gut so! In der aktuellen Debatte über trällernde Kicker wäre es indes vielleicht heilsam, das eigene Trommelfell kurz einer solchen Belastungshörprobe auszusetzen – eine schöne Auflistung unter dem Titel „Hitparade des Grauens“ findet man in einem Artikel der Augsburger Allgemeinen aus dem Jahr 2009. Wer diesen Selbstversuch unternommen hat, kommt nicht mehr auf die Idee, das hörbare Singen der Nationalhymne als Ausdruck tiefer ernst gemeinter Verbundenheit zu deuten. Vielmehr müsste man hier die Laxheit der Schiedsrichter kritisieren – manch Blutgrätsche ist nichts gegen diese Gesangeseinlagen.

Das Singen der Hymne ist kein Zeichen von Integration

Höchstwahrscheinlich war dies den Nationalkickern der damaligen Zeiten auch bewusst. Denn so inbrünstig und hemmungslos sie neben dem Platz sangen, so kollektiv hielten sie die Lippen geschlossen, wenn vor Anpfiff von Länderspielen die Hymne lief. Anschaulich zeigen dies Filmaufnahmen vom WM-Finale 1974 sowie vom EM-Finale von 1980. Das nenne ich Achtung vor der Hymne!

Die heutige Forderung, Khedira und Özil sollten hörbar das Deutschlandlied singen, um damit ein Zeichen für Integration zu setzen, ist dagegen ein Ausdruck der völligen Missachtung – nicht etwa der Hymne, sondern der Intelligenz und des Engagements all derer, die sich auch zwischen Fußballturnieren und ohne nationalen Ethos für Entwicklung und Fortschritt des Gemeinwesens einsetzen.

 

Der Artikel ist am 15.6.2016 bei Cicero Online erschienen.