27.12.2019 – Was haben wir von den 20er-Jahren des 21. Jahrhunderts zu erwarten? Ein Blick auf die 1920er-Jahre vernebelt die Realität, anstatt sie zu beleuchten. Dass heute dennoch so viele Parallelen zu jener Zeit gezogen werden, zeigt den gesellschaftlichen Mangel an Zukunftsdenken.
Menschen neigen dazu, geschichtliche Jahreszahlen und Jubiläen zu nutzen, um Halt in der Gegenwart zu finden. So, wie das jedoch gedacht ist, geht es aber meistens schief: Historische Analogien sagen in der Regel mehr über das Jetzt als über die mit dem Jetzt verglichene Vergangenheit. Der bevorstehende Jahrzehntwechsel animiert uns dazu, sehr weit zurückzublicken, vor allem, weil die 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts aus heutiger Sicht als so anders, aber auch als so ähnlich zur heutigen Zeit gelten. Dieses Jahrzehnt wird gesehen als eine Zwischenperiode, ein Zeitalter des Übergangs, aber auch als ein Vorspiel des Untergangs: Wir sprechen von den „Goldenen Zwanzigern“ und meinen damit Aufbruch, Aufschwung, Revolution und Befreiung. Zugleich meinen wir aber auch den wirtschaftlichen Abschwung, den sozialen Niedergang und den Börsencrash, die Demokratiekrise, die Instabilität, die Massenarbeitslosigkeit und das Aufkommen des Faschismus.
Die Angst vor einem neuen Faschismus löst keine aktuellen Probleme
All dies sind Begriffe, die auch heute, ein Jahrhundert später, in unserem Sprachgebrauch vorhanden sind. Und dennoch ist die heutige Situation nicht mit der von vor 100 Jahren zu vergleichen, weder wirtschaftlich noch politisch noch sozial. Zwar ist auch heute die Welt in Bewegung und Aufruhr. Doch die immer wieder zu hörenden Vergleiche zu den Anfängen der Nazi-Zeit sind sehr pauschal und oberflächlich und halten keiner ernsthaften Überprüfung stand. Während die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts durch den Konflikt großer Ideologien gekennzeichnet waren, besticht das frühe 21. Jahrhundert eher durch das fast vollständige Fehlen derselben. Die heutige Gesellschaft ist, was ihre Politisierung angeht, der komplette Gegenentwurf zu den 1920er-Jahren.
Wir haben uns fast schon daran gewöhnt, dass wir alle paar Jahre mit einem „neuen Hitler“ konfrontiert werden und fast täglich vermeintlich existenzielle Bedrohungen der gesellschaftlichen Stabilität wie Pilze aus dem Boden sprießen. Doch gerade diese Bedrohungsvermehrung ist ein Indiz dafür, dass wir Zeugen einer fast schon verzweifelten Suche nach sinnstiftenden Erklärungen sind. Mehr oder minder ratlos widmet man sich der Geschichte, um sich auf die Gegenwart einen Reim zu machen, ohne aber sich ernsthaft mit der Beschaffenheit dieser Gegenwart auseinanderzusetzen. Dass man dadurch Geschichte wie einen Steinbruch ausbeutet und gedankenlos den eigenen Motiven opfert, wird dabei ebenso oft übersehen wie der Umstand, dass man auf diese Art und Weise alles findet, nur keine zukunftsweisenden Lösungen für aktuelle Fragestellungen und Probleme.
Trump, Brexit und das Ende der Alternativlosigkeit
Das omnipräsente und fast schon inflationäre Betonen vermeintlich faschistoider Gefahren ist ein Indiz für die zum Teil bewusste oder geflissentlich in Kauf genommene Dramatisierung und Polarisierung der gesellschaftlichen Stimmung. Dies dient nicht der inhaltlichen Aufklärung, sondern ist ein verzweifelter Versuch, die eigene Relevanz in Zeiten großer politischer Verdrossenheit zu betonen. Wir haben es zwar spätestens seit dem Jahr 2016, dem Jahr der Brexit-Abstimmung sowie des Wahlsieges von Donald Trump in den USA, mit einem Aufbrechen alter verkrusteter politische Strukturen in der ganzen Welt zu tun. Dieser Aufbruch geschieht aber, ohne dass es eine klar umrissene politische Kraft oder Strömung gäbe, die diese verursacht. Der eher auf der Not geborene Hilfsbegriff „Rechtspopulismus“ eignet sich nicht, um tatsächlich den Kern dieser Veränderungen zu beschreiben. Diese Veränderungen aber als Vorboten einer faschistischen Renaissance zu deuten, wäre wirklich hanebüchen.
Tatsächlich kann das Ende der Ära der politischen Alternativlosigkeit durchaus auch in ganz anderer Art und Weise interpretiert werden, nämlich als ein demokratisches Aufbegehren der bislang häufig „unerhörten“, weil oftmals schweigenden Masse. Dieses Aufbegehren hat durchaus vielfältige Erscheinungsformen: Weder der britische Brexit-Anhänger noch der französische Gelbwesten-Träger oder der US-amerikanische Trump-Wähler sind per se rassistischer Nationalisten oder ein rechte Ewiggestrige. Die Proteste gegen die Regentschaft der sich zunehmend abschottenden Eliten in diese Ecke zu drängen, ist daher nicht nur eine fatale Fehleinschätzung, sondern auch ein elitäres Statement gegen die die inhaltliche Vielfalt, ohne die eine Demokratie gar nicht existieren kann.
Die Freiheiten der 1920er wären heute ein Skandal
Der oft bemühte Vergleich zu den 1920er-Jahren sagt viel darüber aus, wie wir heute unsere Welt sehen. Der Vergleich meint nämlich in der Regel nicht den Hinweis auf die „Goldenen Zwanziger“, in denen kulturelle und individuelle Freiheit entwickelt, erkämpft und ausschweifend gelebt wurde. Er zielt eher auf die Bedrohtheit dieser Freiheit ab und bringt damit die Überzeugung zum Ausdruck, dass wir auch heute wieder vor einem ähnlich apokalyptischen Abgrund stehen. Was bei dem Versuch, einen Vergleich zwischen heute und den 1920er-Jahren zu ziehen, tunlichst verschwiegen wird, ist das aufmüpfige, freiheitsliebende und kämpferische und damit unglaublich lebendige Moment der damaligen westlichen Kultur. Gerade in dieser Hinsicht könnte der Kontrast zu heute kaum größer sein.
Die kulturelle und politische Vielfalt und Dynamik der 1920er-Jahre würde heute als unerträglich, als gefährlich und brutal, als zu frei und kontrovers, als obszön und unmoralisch, als belästigend und verstörend, als zutiefst diskriminierend und politisch unkorrekt abgelehnt. Wir reden heute gerne von der Zivilgesellschaft. Die Lebendigkeit der westlichen Gesellschaften von vor 100 Jahren würde heute eher als „Zuviel-Gesellschaft“ eingestuft. Das Aufkommen des Faschismus ist auch als Reaktion gegen dieses anarchische Element und gegen die entwurzelnde Dynamik der Moderne zu verstehen. Eine solch radikale Reaktion wäre heute gar nicht notwendig. Selten waren westliche Gesellschaften staatshöriger und verbotsorientierter als heute. Freiheiten gelten heute, wenn sie überhaupt noch ernstgenommen werden, als staatlich kontrollierte Schutzzonen und nicht als eigenständig und gemeinschaftlich gestaltbare Freiräume.
Beginn eines neuen demokratischen Aufbruchs?
Wenn es überhaupt eine Epoche gibt, mit der die heutige verglichen werden könnte, dann dürfte es am ehesten das späte 18. und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts sein, als die Menschen um grundlegende Freiheiten (Wahlrecht, Pressefreiheit) und mit abgehobenen Herrschaftseliten zu kämpfen hatten. Während die späten 1920er und 1930er-Jahre das gewaltsame Ende der demokratischen Ära bedeuteten, stehen wir heute möglicherweise eher am Beginn einer Zeit, in der die Gesellschaft neu verstehen muss, wie wichtig es ist, sich gegen demokratisch kaum kontrollierbare Eliten sowie gegen die Begrenzung elementarer Freiheitsrechte zu wehren, auch wenn dies Risiken birgt. Was der heutigen Zeit im Vergleich zum 19. Jahrhundert jedoch fehlt, ist der optimistische Fortschrittsglaube, der aufklärerische und demokratische Impetus und das Streben nach Freiheit. Auch die wirtschaftliche Dynamik der damaligen Industrialisierung findet heute keine Entsprechung. Vielmehr sind heute gegenläufige ökonomische Tendenzen zu beobachten.
Daher ist ein erneuter Aufbruch hin zu mehr Demokratie, mehr Freiheit und mehr gesellschaftlicher Dynamik alles andere als ein Selbstläufer. Um dennoch die Chancen sehen zu können, sollten wir aufhören, hinter jeder Häuserecke die Rückkehr der Vergangenheit oder die apokalyptische Zukunft zu vermuten. Tatsächlich ist ungeachtet des allgegenwärtigen Pessimismus und auch trotz vieler Rückschläge die Welt in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einem deutlich besseren Ort geworden. Gesellschaftliche Fortschritte, die globale Armutsbekämpfung, geradezu unglaublich Fortschritte in Medizin, Technologie und auch Umweltschutz sorgen dafür, dass Menschen heute besser, länger und gesünder und wissender leben als jemals zuvor. Dass immer mehr Menschen auf dem Globus sich auch für Freiheit einsetzen, stimmt mich optimistisch. Ich bin jedenfalls sehr gespannt auf die 2020er-Jahre.
Dieser Artikel ist am 27. Dezember 2019 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.
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