Verschwörungstheorien, Steilvorlagen und ungenutzte Chancen

Bundesumweltministerin Barbara Hendricks ruft die Deutschen im beginnenden Wahlkampf 2017 zum „Autofasten“ auf, als hätte es das grüne „Veggie-Day“-Debakel nie gegeben. Und auch die AfD zerfleischt sich lieber selbst, als Lösungskonzepte zu erarbeiten.

Was macht politische Verschwörungstheorien heute eigentlich so attraktiv? Demjenigen, der ihnen Glauben schenkt, bieten sie häufig eine auf Logik und Rationalität fußende und in sich geschlossene Sicht auf Teile der Wirklichkeit. In ihrer Begrenztheit machen manche dieser abstrusen Theorien schlicht und ergreifend mehr Sinn als viele vermeintlich „seriöse“ Erklärungsversuche, die vor Ungereimtheiten und Unfällen, Zufällen und Überraschungen sowie vor doppelten Standards und halben Wahrheiten nur so strotzen.

Beispiel gefällig? Stellen Sie sich vor, dass einige Hinterbänkler der Grünen und der Sozialdemokraten hinter verschlossenen Türen einen Deal mit der „Alternative für Deutschland“ ausgehandelt haben, der ihnen als Gegenleistung für politische Gefälligkeiten in einer AfD-geführten Bundesregierung ein paar Ministerposten garantiert – unabhängig vom eigenen Abschneiden bei den kommenden Bundestagswahlen.

Sie mögen das zunächst für völlig absurd und lächerlich halten. Und Sie haben Recht, dies ist frei erfunden. Andererseits: Wie sonst ist es zu erklären, dass ausgerechnet in dem Moment, in dem die AfD erstmals seit Jahren relativ deutlich an Zustimmung einbüßt, Politiker von SPD und Grünen ohne Not damit beginnen, Wasser auf die Mühlen der Deutschalternativen umzuleiten?

Der grüne Verkehrspolitiker Stephan Kühn ruft gemeinsam mit der sozialdemokratischen Bundesumweltministerin Barbara Hendricks die Deutschen zum „Autofasten“ auf und weckt Erinnerungen an gruselige Zeiten rot-grüner Umerziehungswahlkämpfe. Im beginnenden Wahlkampf 2017 einen „Veggie-Day“ für Mobilisten zu fordern, ist nicht mutig, sondern suizidal. Sehen die beiden das Offensichtliche nicht, oder haben Kühn und Hendricks Angst vor der so plötzlich aufkeimenden Siegesgewissheit im linken Lager?

Das pünktlich zur Fastenzeit zu beobachtende Revival der rot-grünen Verbotskultur wirkt wie ein verzweifelter Versuch, sich selbst vorzugaukeln, dass die Zeiten, in denen die Menschen solche Politikentwürfe als alternativlos durchwinkten, doch nicht vorbei sind. Frei nach dem Motto: „Es kann keine großen Probleme geben, solange wir uns immer noch um Dinge kümmern, die uns nichts angehen.“

Welche rationalen Motive wären denn vorstellbar, gerade jetzt die Wähler daran zu erinnern, dass sie von Rot-Grün außer ökologischer Verzichtsverklärung, erzwungener Ressourcenumverteilung und politisch korrekter Selbstentmündigung nur wenig zu erwarten haben? Mir fallen keine wahlkampfstrategischen Erwägungen ein, die zu einem solchen Ehrlichkeitsschub führen könnten.

Wenn irgendjemand von dieser Politik profitieren kann, dann eigentlich nur die AfD. Genau genommen müssten deren Politstrategen – wenn es sie denn gäbe und sie auch nur kurz einen Blick aus ihrem eigenen Sumpf nach draußen werfen würden – Kühn und Hendricks auf Knien für ihre gezielte Wählervertreibung danken: Gerade in dem Moment, in dem sich verdrossene Ex-Genossen wieder dem linken Arm der Merkel-Regierung annähern, haben die beiden genau den Akzent gesetzt, den ein morsches und fast gänzlich aus Elitenverachtung gespeistes Auffanglager für heimatlose Politflüchtlinge benötigt, um alternativ und attraktiv zu wirken.

Daraus lässt sich ein weiterer Grund ableiten, der Verschwörungstheorien heute zuweilen recht attraktiv wirken lässt: Die ihnen zugrunde liegenden Annahmen geben manchmal tatsächlich mehr Anlass zur Hoffnung als die Wirklichkeit. Es wäre schön, wenn man die Initiative „Autofasten“ tatsächlich, wie meine frei erfundene Verschwörungstheorie nahegelegt, auf eine Intrige rot-grüner Hinterbänkler zurückführen könnte. Leider ist dies nicht der Fall.

Die Lage ist schlimmer: Die etablierte Politik der volkspädagogischen Gängelung und Entmündigung wird nicht hinterrücks und im Verborgenen, sondern im vollen Bewusstsein munter weiter betrieben: Neben dem Autofasten, dem Klimafasten der evangelischen Kirche und dem Plastikfasten des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland drohen Dieselverbot, Handyverbot, Kopftuchverbot, Kopftuchwitzeverbot, Kaffeebecherverbot, Rauchverbot, Alkoholverbot – die Liste ließe sich beliebig verlängern. Es scheint, als gäbe es in den Partei- und Schaltzentralen der Macht keinerlei Anlass zum Umdenken, als hätte es das durch Brexit, Trump und zahlreiche Protestbewegungen eingeläutete Ende der politischen Eiszeit nicht gegeben.

Dieses offenkundige Ausblenden der sich verändernden Wirklichkeit, das sich im Duktus des beherztes „Weiterverbietens“ ausdrückt, wird nicht ohne Folgen bleiben. Denn spätestens seit den letzten Bundestagswahlen zeigt sich, dass das jahrelange Predigen, die Menschen sollten zuallererst wählen gehen, auf ungewollte Art erfolgreich war. Mittlerweile gehen die Leute wählen, und sie sind auch durchaus bereit, jemanden abzuwählen, wenn sich dazu eine auch nur ansatzweise realistische Chance bietet. Dass die AfD in den letzten Wochen dafür immer weniger infrage kam, ist ihrer durch offensichtliche Substanzlosigkeit ausgelösten Selbstzerfleischung anzurechnen. Die Außendarstellung dieser angeblichen Anti-Partei ist mittlerweile so gewöhnlich schlecht, dass selbst ein ausgewiesener Eurokrat wie Martin Schulz mit der Maske des Arbeiterführers an Popularität zulegen kann.

Das Gute an der aktuellen Entwicklung ist, dass nicht nur alte politische Orientierungen und Loyalitäten an Bedeutung verlieren. Dasselbe gilt auch für die alte politische Maskerade: Mehr Menschen reagieren allergisch auf die betont unpolitisch und „alternativlos vernünftig“ daherkommenden Belehrungen von oben, wie sie zu leben, zu essen, zu trinken, zu reisen, zu erziehen, zu wählen, zu lieben, zu reden und zu schweigen hätten. Und es wird auch immer deutlicher, dass der angeblich virulente Zulauf zu Protestparteien unterschiedlichster Couleur – von Rechtsaußen über Spaßparteien und Anti-Parteien bis hin zu Vulgärlinken – nicht mehr als ein Sammelsurium von Fluchtbewegungen aus dem Mainstream heraus ist.

Es überrascht daher auch nicht, dass die AfD eher geringe Chancen hat, sich bei den kommenden Wahlen die Entleerung der alten politischen Konstellationen zunutze zu machen und diese tatsächlich über den Haufen zu werfen. Seit 2013 hat sich trotz Flüchtlingskrise, IS-Terror in Europa, Brexit und der fortschreitenden Politik-Versteinerung der Stimmenanteil dieser Partei von 4,7 nur auf derzeit knapp 9 Prozent erhöht – er liegt somit knapp über dem Niveau von Grünen und Linken. Von erdrutschartigen Veränderungen kann hier also kaum die Rede sein, eher von erstaunlicher Erfolglosigkeit angesichts der Steilvorlagen, die der Partei seit Jahren serviert werden. Eigendynamik? Fehlanzeige.

Auch dem Front National in Frankreich werden eher geringe Chancen eingeräumt – dies, obwohl sich das französische Polit-Establishment erfolgreich selbst zugrunde richtet. Noch schlimmer ergeht es der United Kingdom Independence Party. Diese Partei, der vorgeworfen wird, sie hätte mit ihrer rassistischen Propaganda den Brexit verursacht, wird gerade selbst zum Opfer der durch den Brexit ausgelösten politischen Umwälzungen.

Als Sammelpunkte für heimatlose politische Flüchtlinge können diese Organisationen kurzzeitig selbst den Anschein politischer Dynamik entfalten. Langfristige und tragfähige Alternativkonzepte entstehen hier jedoch nicht. Die historische Leistung dieser Gebilde ist es, die etablierten Pseudo-Lösungen zu untergraben und zu demaskieren. Am deutlichsten gelingt dies dem neuen US-Präsidenten Donald Trump. Dessen von außen betriebene Entzauberung wird noch ein wenig länger auf sich warten lassen. Zu flach und hysterisch sind die Reaktionen seiner Gegner, als dass diese derzeit wirkungsvolle Anti-Trump-Strategien entwickeln könnten.

Solange sich die eingeebneten und profillosen politischen Landschaften nicht erneuern, werden die Menschen weiter auf der Suche nach Inhalten umherirren und sich an immer neuen Tiefpunkten sammeln. Hierin liegt aber gleichzeitig der Grund, durchaus optimistisch zu sein: Erneuerung und Veränderung sind nicht nur möglich, sondern gerade heute atemberaubende Realität. Richtig spannend wird es werden, wenn sich politische Bewegungen formieren, die mehr zu bieten haben als den heute handelsüblichen misanthropisch-verschwörerischen Mix aus Abschottungs-, Opfer- und Misstrauenspolitik. Augen auf!

Dieser Artikel ist am 5. März 2017 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.