„Nach der WM ist vor dem ?“

Das Spektakel ist vorbei. Der Tross ist weiter gezogen. Die Fifa hat die exterritorialen Gebiete, die sie „Fifa WM 2006-Stadien nannte“, aufgegeben. Deutschland hat überzeugt: als fahnenschwenkende Partynation sowie fußballerisch – was doch viele überrascht haben dürfte. Übermannt von dieser verzweifelt herbeigesehnten Überraschtheit, von diesem so sehr erwünschten Ausnahmezustand fielen sich wildfremde Menschen um die Hälse, bei hochsommerlichen Temperaturen flossen Kaltgetränke, alkoholhaltig und -frei in wildem Durcheinander, in Strömen.

Die gesamte Öffentlichkeit – und mit ihr Wirtschaft und Politik – hatte sich an den WM-Zug geklammert, um auf diesem Wege ein Gefühl von Aufregung, Bewegung, Dynamik oder einfach nur ein bisschen Fahrtwind zu erhaschen bzw. um in seinem Windschatten allerhand politische Entscheidungen durchzudrücken, die nicht viel öffentliches Interesse vertragen. Auch die Aufwärmphase vor dem Turnier hatten die Politik bestimmt geprägt: Hoffnung sollten wir alle aus dem nun kurz bevorstehenden Großereignis ziehen: Zehntausende Arbeitslose sollten auf neue Jobs, Unternehmen auf rasante Umsatzsteigerungen, Geldanleger auf Gewinne aus WM-Finanzprodukten, das Bruttoinlandsprodukt auf ein halbprozentiges Wachstum, die Umwelt auf ein klimaneutrales Turnier und die ganze Nation auf einen Entwicklungsschub hoffen. Ein Befreiungsschlag sollte durchs Land gehen und die gedrückte Stimmung vertreiben, die auf ihm lastete. Und damit dieser auch gelingen möge, wurde in nahezu allen Bereichen des Lebens und nicht selten auch überaus krampfhaft ein Fußballbezug hergestellt und auf Fußballterminologie zurückgegriffen.

Nun gähnt vor der Nation ein tiefes Emotionsloch. Gewiss, die fußballerische Freude über das gute Abschneiden der Klinsmänner wird noch einige Zeit anhalten. Aber diese Weltmeisterschaft war mehr als ein Kräftemessen auf dem Rasen. Sie gab den Menschen ein Ziel. Es schien, als hatte sich das Land mit Haut und Haaren diesem Event verschrieben und versucht, nicht nur eine WM aus-, sondern sich selbst an ihr aufzurichten. Dies gelang – zumindest auf Zeit. Deutschland einig Jubelland – weil der deutsche Alltag ansonsten wenig Anlass bietet, sich in den Armen zu liegen; es fehlt die Vision, die die Menschen zusammenbringt. Die Grills können nun auskühlen, wir auch? Wie haben die Deutschen eigentlich das Ende „ihrer“ letzten Weltmeisterschaft im Sommer 1974 überlebt?

Ein Blick in die Fußballgeschichtsbücher schafft Klarheit. Einer der interessantesten Unterschiede zwischen 1974 und 2006 betrifft die politische und gesellschaftliche Relevanz der Turniere. „Ebenso unterkühlt wie die Fangemeinde nahmen die Volksvertreter den Titelgewinn als pure Selbstverständlichkeit hin“, so beschreiben Ludger Schulze und Thomas Kistner in ihrem Buch Die Spielmacher die Stimmung während und nach der WM 1974. Helmut Schmidt, wenige Monate zuvor ins Kanzleramt befördert, war nicht nur ein ausdrücklicher Nicht-Fußballfan; ganz offensichtlich erschien ihm auch die schon damals nicht unerhebliche Wärme der Scheinwerfer als nicht wichtig genug, um über den eigenen Schatten zu springen und sich in den Fußballtaumel zu begeben. Die Begeisterung war aber auch insgesamt nicht so groß. Das 74er-Turnier ging als ein über weite Strecken emotionsarmes in die Geschichte ein und nahm erst an Fahrt auf, als die deutsche Mannschaft dies auch tat. In Karl-Heinz Hubas Fußball-Weltgeschichte wird die damalige Stimmung wie folgt beschrieben: „Es war eine Weltmeisterschaft, die vom Millionen-Publikum am Anfang nur aus großer Distanz genossen wurde. Keineswegs ‚wie ein Mann‘ standen die Bundesdeutschen hinter ihrem Team, und der Jubel für ihre eigene und die anderen Mannschaften hielt sich in Grenzen.“

Mit Sicherheit waren die noch sehr frischen Erinnerungen an das Attentat auf die israelische Mannschaft während der Olympischen Spiele von 1972 in München ein Grund für den gedämpften Enthusiasmus. Entscheidender waren jedoch die gesamtgesellschaftlichen Umstände, in denen das Turnier stattfand. Zwar war auch 1974 die wirtschaftliche Lage in Deutschland nicht gerade berauschend. Die Weltwirtschaft befand sich nach der Ölkrise von 1973 in einer Rezession, und das deutsche „Vollbeschäftigungs-Paradies“ sah sich erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg mit dem Phänomen wachsender Arbeitslosigkeit konfrontiert (von 1973 bis 1975 vervierfachte sich die Zahl der Arbeitslosen in der Bundesrepublik von 273.000 auf über 1 Mio.; die Quote stieg von 1,2 auf 4,7 Prozent). Dennoch galt die Weltmeisterschaft nicht als Katalysator für gesellschaftliche und wirtschaftliche Problemlösungen. Die Krisenerfahrung war zwar für viele Menschen einschneidend, führte aber aufgrund der noch deutlich stärkeren Relevanz von Politik, politischen Programmen und wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Visionen nicht zu einer so perspektivlosen Stimmung, wie sie heute vorherrscht. Während die WM 2006 als Lokomotive für den gesamtgesellschaftlichen Aufschwung herbeigesehnt und ihre Rolle dementsprechend überhöht wurde, galt die WM 1974 den Menschen bestenfalls als angenehme Abwechslung in einem regnerischen Sommer.

Auch die Politik war damals noch wesentlich visionärer und mit weitaus mehr Tiefgang und Orientierungskraft ausgestattet, als man dies heute behaupten kann. Politiker vertrauten noch stärker darauf, die Menschen über politische Weichenstellungen und Konzepte erreichen zu können. Man musste sich dazu nicht als Fußballfan verkleiden. Oder, wie Ludger Schulze und Thomas Kistner es plastisch auf den Punkt bringen: „Deutschland benötigte in jenen Jahren keinen Fußballtriumph, um sich selbst zu finden, die Industrienation gehörte zu den Lokomotiven der Weltökonomie.“
Die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 wurde hingegen als ein Ereignis angegangen, über das wir „zu uns selbst finden“, uns an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen und neu erfinden sollten. Kampagnen wie „Land der Ideen“, „Du bist Deutschland!“ sowie zahlreiche weitere staatliche Initiativen – fast jedes Ministerium hatte seine eigene WM-Kampagne – sollten der Gesellschaft Zuversicht, Sinn, Orientierung und Optimismus zurückgeben, die sie im Alltag und aus der ihr prognostizierten Zukunft nicht zu ziehen imstande ist. Man fühlte sich wie in einem gottverlassenen mittelalterlichen Dorf, das sich wochenlang herausputzt und eine grundlegende Verbesserung seiner Situation erhofft, nur, weil der König einen kurzen Abstecher dorthin macht. Deutschland putzte sich heraus, denn „König Fußball“ ist zu Gast. Wie stünde es um unsere Zukunft, wenn sich die FIFA dazu entschieden hätte, die WM 2006 nach Südafrika zu vergeben? Und: Gibt es eigentlich Perspektiven für die Zeit „danach“, oder sollen wir ab sofort in Erinnerungen schwelgen?

Ganz grundlegend stellt sich auch die Frage, ob ein Großereignis wie eine Fußball-Weltmeisterschaft überhaupt die politische wie wirtschaftliche Situation eines Landes nachhaltig verbessern kann? Einige Zahlen und Fakten deuten zunächst darauf hin. So konnte sich Südkorea im Zuge der gemeinschaftlich mit Japan ausgerichteten Weltmeisterschaft von 2002 über direkte wirtschaftliche Wachstumseffekte von mehr als 3,4 Mrd. Euro freuen. Für Deutschland wurden Effekte in einer ähnlichen Größenordnung erwartet. Der Unterschied zwischen beiden Ländern ist jedoch, dass Südkorea insgesamt ein sich äußerst dynamisch entwickelndes Land ist und auch in den Jahren vor und nach dem Turnier Wirtschaftswachstumsraten zwischen 3 und 4,5 Prozent realisieren konnte – Zahlen, von denen Deutschland lange zu träumen aufgehört hat. Während also die WM 2002 der ohnehin dynamischen südkoreanischen Wirtschaft lediglich zusätzliche Impulse bescherte, erhofften sich deutsche Politiker, dass der Aufschwung durch die WM 2006 überhaupt erst richtig in Gang kommen möge – eine Hoffnung, für die es wenig Anlass gab und gibt.

Auch der WM-Sieg 1974 löste keinen Klimawechsel aus. Selbst die Begeisterung über den neuerlichen WM-Erfolg von 1990 war flankiert von weitaus größeren politischen Veränderungen: Die Wiedervereinigung war in trockenen Tüchern und mobilisierte nicht nur bei Franz Beckenbauer, der auf Jahre fußballdeutsche Unbesiegbarkeit voraussagte, (sport-)patriotischen Größenwahn. Sogar das viel zitierte „Wunder von Bern“ von 1954 liefert keinen Grund zur Hoffnung auf eine Neuauflage im Jahr 2006. In der Tat hatte der überraschende Sieg der deutschen Mannschaft gegen Ungarn eine hohe gesellschaftliche Bedeutung. Die Gründe hierfür lagen aber erneut „neben dem Platz“: Neun Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges konnte die noch junge Bundesrepublik durch den Sieg im Finale von Bern erstmals auf internationaler Bühne positive Schlagzeilen liefern. Zudem fiel diese sportliche Sensation in die Zeit des „Wirtschaftswunders“, in der sich die deutsche Gesellschaft nach Jahren der Armut dynamisch entwickelte, die Menschen wieder mit Optimismus in die Zukunft schauten und die Hoffnung auf Verbesserungen durchaus berechtigt war. In diesem Klima wurden Fritz Walter & Co. – ohne das Zutun der Politik, die in Bern überhaupt nicht vertreten war – tatsächlich zu Symbolen des Aufbruchs; ausgelöst haben sie ihn hingegen nicht. Auch Klinsmann & Co. wird dies nicht gelingen.

Die Überfrachtung der Weltmeisterschaft mit Hoffnungen und Erwartungen (und Reglementierungen), die nichts mit Fußball zu tun haben, sorgte für viel Unmut unter Fußballfans. Sie ist zutiefst problematisch: einerseits für die Gesellschaft, die an ein Event überzogene und unerfüllbare Erwartungen knüpft und im Anschluss ohne Perspektiven dasteht; andererseits aber auch für den Fußball, der mit immer mehr sozialen Aufgaben überhäuft wird und aufhört, einfach nur Fußball zu sein. Fußballer müssen heute stromlinienförmige Aushängeschilder und Botschafter sein. Geradezu erfrischend wirkt da die Erinnerung an 1974, als man sich mit Paul Breitner einen Ex-Maoisten im Nationaltrikot leistete. Eine derartige Ansammlung genialer Freaks, wie sie die Weltmeisterelf von ’74 darstellte, wäre im heutigen staatstragenden Fußball undenkbar. Dabei war es nicht so, dass sich Fußballfunktionäre gegen diese ungesunde Aufwertung zu Wehr setzen würden, im Gegenteil, sie sonnten sich in der Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde. Für all diejenigen, denen sowohl gesellschaftlicher Fortschritt als auch der Fußball am Herzen liegt, ist die Lage vertrackt: Denn damit die Gesellschaft wirklich vorankommt, muss sie aufhören, in unterhaltsamen Nebensächlichkeiten wie Fußball – man möge mir verzeihen – ein Substitut für wirkliche Veränderungen und Visionen zu sehen. Mein Vorschlag für eine Losung lautet: „Köpft König Fußball!“
Erschienen in Der tödliche Pass, Juli 2006