Licht an im eigenen Oberstübchen!


Spätestens nachdem sich Angela Merkel öffentlich entschuldigt hat, ist der Wunsch nach politischer Veränderung groß. Doch die Debatten sind nur auf den ersten Blick lebendiger. Es bleibt ein viel größeres Problem: Die inhaltliche Leere, die sich durch unsere politische Kultur zieht.


Ein Jahr nach der Bundestagswahl scheint die Regierung in Berlin mental abgewirtschaftet zu haben. Wenn sich sogar schon Kanzlerin Angela Merkel vor laufenden Kameras entschuldigt wegen eines Regierungs(nicht)handelns, das zu selbstbezogen war, dann wird klar: Die Ära Merkel hat in der öffentlichen Wahrnehmung einen neuen Tiefpunkt erreicht, und es gibt nur wenige Beobachter, die hinreichend Fantasie aufbringen, um sich noch tiefere Tiefpunkte vorstellen zu können.

Gäbe es eine ernst zunehmende politische Kraft, wäre der Wechsel nur noch eine Frage der Zeit. Diese Kraft hätte aus klaren Visionen heraus Stärke entwickelt – und nicht nur aufgrund der Schwäche anderer. Doch ohne ernstzunehmende Stürme können auch abgestorbene Bäume jahrelang noch stehen bleiben.

Die Sehnsucht nach Sinn
Das Spannende an der gegenwärtigen politischen Stimmung im Lande ist, dass einerseits die Verdrossenheit über die Merkel-Regierung inzwischen nicht mehr an politische Überzeugungen gekoppelt, sondern parteiübergreifend kulturelles Allgemeingut geworden ist. Andererseits aber herrscht keine Wechselstimmung. Denn dazu müsste ja eine grobe Vorstellung davon existieren, wohin gewechselt werden sollte. Doch außer der AfD scheint niemand die Chance auf Veränderung als Chance für sich zu sehen. Für eine Erneuerung der CDU von innen heraus fehlen sowohl Ideen als auch das charismatische Personal, das auch außerhalb des Konrad-Adenauer-Hauses bekannt wäre. Während sich die SPD vor genau den einstelligen Wahlergebnissen fürchtet, von denen die FDP träumt, haben sich die Grünen zum mächtigsten und treusten Merkel-Fanclub der Republik aufgeschwungen. Derweil übt sich die Linke einmal mehr im Aufstehen gegen sich selbst.

Wohin man schaut: Die Sehnsucht nach dem Ende des „Weiter so“ ist mit Händen zu greifen. Die Ära der Alternativlosigkeit, die eng mit Angela Merkel verbunden ist und in der das fortgesetzte Dahindümpeln in trüben Gewässern den Alltag bestimmte, rückt ihrer Dämmerung näher. Doch wie in freier Wildbahn, so auch hier: Das Abendrot bedeutet gerade nicht, dass es anschließend heller wird. Bis es so weit ist, wird es erst einmal richtig finster. Das von vielen herbeigewünschte Ende der Alternativlosigkeit lässt nicht darauf schließen, dass plötzlich Alternativen vorhanden wären. Der Wunsch nach Veränderung ersetzt neue Orientierungen nicht, auch wenn er noch so stark ist. Die beinahe verzweifelte Suche nach Bedeutung und das Ringen mit der inhaltlichen Leere und Belanglosigkeit der derzeitigen politischen Kultur durchsetzen und verzerren den kompletten Diskurs.

Von der Mücke zum Elefanten
Die Sehnsucht nach Inhalten, an denen man sich im positiven wie im negativen Sinne klar orientieren und profilieren könnte, führt zu einer Dramatisierung und Emotionalisierung der öffentlichen Auseinandersetzung. Es werden nicht nur immer magere Säue in immer kürzeren Abständen durchs Dorf getrieben, sondern auch Mücken zu Elefanten stilisiert, um würdige und möglichst überzeugende Aufhänger der eigenen politischen Agenda zu finden. Dieser Hang zur Übertreibung und künstlichen Skandalisierung prägt die gesamte politische Landschaft und das Handeln aller Akteure. In diesem Klima werden Anlässe mit einer politischen Bedeutung aufgeladen, die kaum nachzuvollziehen ist: Jede Bodenwelle gilt als Spitze eines Eisbergs, in jeder abrupten Veränderung wird der Beginn der Apokalypse und in jeder Personalie der entscheidende Hinweis auf eine Verschwörung vermutet. Die öffentliche Debattenkultur erscheint hierdurch zwar lebendig wie selten zuvor – doch der Schein trügt: Die Erregungskultur ist nicht Ausdruck von Lebendigkeit, sondern besiegelt das Ende der inhaltlichen Auseinandersetzung.

Verschleppen als oberstes Gebot
Die Dramatisierung dient vor allen Dingen auch der Selbstverortung und -bestärkung in Zeiten, in denen öffentliche Resonanz auf normalem Wege schwer zu erzielen ist. Doch mit derselben Zielsetzung kann die Wirklichkeit auch in die entgegengesetzte Richtung verzerrt werden. Dies erklärt den ebenfalls verbreiteten Hang dazu, problematische Entwicklungen herunterzuspielen und zu relativieren. Naturgemäß fällt diese Rolle zuvörderst den Regierenden zu, denn ihnen obliegt ja das Problemlösen, mindestens aber das Krisenmanagement. Und wenn es hier an Lösungsansätzen mangelt, sind Verschleppung und Relativierung das oberste Gebot. Wenn aber oppositionelle Kräfte gleichzeitig unter dem Mangel alternativer Lösungsmodelle leiden, kann das Relativieren auch jenseits der Regierungsbank als opportunes Mittel Popularität erlangen – gewissermaßen als großkoalitionäre Realitätsblende. Während also einerseits Mücken zu Elefanten gemacht werden, kann einem wahrhaftigen Dickhäuter durchaus auch das Schicksal drohen, zur Schnecke gemacht zu werden.

Zwischen Demokratieverdrossenheit und Vergangenheits-Recycling
In diesem Nebeneinander von der Dramatisierung des Belanglosen und der Relativierung des Relevanten entfernt sich die Politik immer weiter von der Wirklichkeit und den in ihr lebenden Menschen. Die Folgen dieser Flucht sind deutlich zu spüren: Das politische Berlin verliert jedes Gespür für die Interessen, Vorstellungen und Belange der Menschen und kreist zunehmend schneller um die eigene Verunsicherung. Angela Merkels „mea culpa“ ist vor diesem Hintergrund weit mehr als eine Bitte um Nichtbestrafung, gerichtet an die demnächst in Bayern und Hessen zu den Urnen schreitenden Wähler. Vielmehr handelt es sich um ein erschreckendes Eingeständnis des völligen Realitäts- und Orientierungsverlusts der politischen Entscheidungselite ein Jahr nach der letzten und drei Jahre vor der planmäßig nächsten Bundestagswahl. Niederschmetternd ist dieses Eingeständnis auch deswegen, weil die einst „mächtigste Frau der Welt“ – ohne es zu sagen – an sich selbst und ihrem Regierungshandeln der vergangenen Monate offenbar genau das erkennt, was man ansonsten nur Wutbürgern und „Dunkeldeutschen“ attestiert: Demokratieverdrossenheit.

Da ist es fast schon logisch, dass angesichts des Fehlens zukunftsorientierter politischer Orientierungen, die über reines Krisenmanagement hinausgehen, Menschen den Steinbruch der eigenen nationalen Vergangenheit plötzlich entdecken als Primärquelle von Inspiration und Visionen. Wo sollte man sich in auch sonst umsehen in Zeiten, in denen nichts ausgeprägter und parteiübergreifender ist, als Zukunftspessimismus und Misstrauen gegenüber Neuerungen? Wenn Zukunft nur noch als Schreckensszenario gedacht wird, kann selbst die dunkelste Vergangenheit noch mit probaten Lösungsansätzen aufwarten und das eigene Image aufpolieren. Frei nach dem modernen Motto: Was im Lande der Recycling-Weltmeister für Plastik gilt, kann doch auch bei politischem Sondermüll klappen.

Orientieren Sie sich neu!
In dieser Gemengelage ist es zugegebenermaßen nicht leicht, die Orientierung zu behalten. Im Zwielicht der politischen Finsternis gelingt es den seltsamsten Gestalten, Eindruck zu machen und lange Schatten zu werfen. Dabei sind es häufig gerade diejenigen, die am lautesten das Ende der Alternativlosigkeit (sprich: das politische Ende von Angela Merkel) fordern, die keinen Aufbruch in die Zukunft anpeilen, sondern auf ein Revival des Alten hoffen. Und selbst jene, denen man in der Vergangenheit noch unterstellte, zumindest halbwegs klar orientiert zu sein – wohin auch immer – irrlichtern verloren durch die eingeebnete und menschenleere politische Landschaft auf der Suche nach Orientierungspunkten und den abhanden gekommenen Gefolgschaften. Angesicht von so viel Ratlosigkeit und Skepsis ist es nicht verwunderlich, dass sich ein leicht fatalistischer „Merkel-Konservatismus“ entwickelt.

Das Interessante an diesem Konservatismus ist, dass er gerade Menschen befällt, die mit Angela Merkel nie viel am Hut hatten, sie aber in Zeiten politischer Verrohung als das verlässlichste, aber auch ungefährlichste Übel einstufen. Das mag nachvollziehbar, „vernünftig“ und bequem erscheinen, bedeutet aber letztlich nichts anderes als eine politische Kapitulation vor jemandem, dessen Zeit lange abgelaufen ist. Gegen die Rückkehr abgehalfteter Ideologien bietet der Rückzug ins Private keinen Schutz. Die Nacht wird nicht dadurch weniger dunkel, dass man die Augen verschließt. „Augen auf!“ ist da schon die bessere Devise. Und auch, wenn wir permanent zum Energiesparen angehalten werden: Machen Sie Licht im eigenen Oberstübchen. Beleuchten Sie ihre Umgebung, und schauen Sie auch in die dunklen Ecken. Orientieren Sie sich neu und machen Sie sich einen eigenen Reim, anstatt die alten Lieder der Anderen zu singen. Sie brauchen der Politik nicht bei der Suche nach Bedeutung zu helfen. Machen Sie selbst Sinn. Das ist das Aufmüpfigste, was Sie tun können.

 

Dieser Artikel ist am 30. September 2019 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.