Grand Prix: Ein „bisschen“ Frieden geht halt nicht!

Vor 25 Jahren war die Welt noch in Ordnung. Nicole gewann den Grand Prix Eurovision de la Chanson. „Ein bisschen Frieden“ hieß das Liedchen, mit dem ein kleines bis dato weithin unbekanntes Mädchen die Herzen des europäischen Grand-Prix-Publikums eroberte. Damals war so etwas noch möglich: Der Ostblock war intakt und – bis auf Jugoslawien – außen vor, die westliche Schlagerwelt war unter sich, und Nestbeschmutzer wie Stefan Raab oder Guildo Horn, die Ralph Siegel und Konsorten ans Leder wollten, erfreuten sich noch keiner Sendezeiten und hätten auch nicht gewählt werden können, da damals noch nicht per Telefon abgestimmt, sondern die Entscheidung von einer Jury getroffen wurde.

„Ein bisschen Frieden“ – ob Nicole damals bewusst war, wie wichtig das Wörtchen „bisschen“ in diesem Text werden würde? Wahrscheinlich nicht. Wie hätte sie auch ahnen können, dass im Jahre 2007 nicht nur ganz Osteuropa, sondern auch halb Asien sich aufmachen würde, dem Westen die Deutungshoheit dessen, was „guter Geschmack“ ist, so eindrucksvoll zu entreißen und acht der ersten zehn Plätze zu belegen?! Wie hätte sie zudem davon ausgehen können, dass auch innerhalb des Westens die Vorstellung davon, welche Musik es wert sei, die eigene Nation zu repräsentieren, parallel zum Nationalgefühl an jeglicher inhaltlichen Bodenhaftung verlieren würde? Das hat die 17-jährige Nicole nicht gewusst – und bestimmt auch nicht gewollt! Das einzige, was sie wollte, war „ein bisschen“ Frieden, nicht offenen Grenzen, und auch keine (vom Westen vorangetriebene) osteuropäische Kleinstaaterei, die den großen Schlagernationen kurzerhand das Heft aus der Hand nimmt. Ihr Lied schwamm auf der Welle des Unbehagens angesichts des Nato-Doppelbeschlusses, der Friedensbewegung und des Falklandkrieges. Eine slawische Schlager-Schwemme sollte daraus nicht werden. Der Ralph-Siegel-Song war nicht als Aufforderung gedacht, die altgedienten Barrieren der heilen Welt einzureißen, weder im Inneren, noch nach außen, im Gegenteil: Es war nur ein Traum eines kleinen naiven Mädchens.

Entsprechend wütend gibt sich Nicole heute darüber, dass man sie so falsch beim Wort genommen hat. Nicht nur, dass die Osteuropäer heute allein schon hinsichtlich der Anzahl der teilnehmenden Staaten den Eurovision Song Contest dominieren – sie setzen auch Guildo Horns Zeile aus seinem Grand-Prix-Song von 1998 in die Tat um und haben sich alle so dolle lieb, dass sie sich gegenseitig die Stimmen zuschustern. Das ist in jedem Falle eine herbe Kritik wert, dachte sich Nicole und beschwerte sich über das Stimmverhalten der Osteuropäer, die unter sich blieben und das paneuropäische Treiben somit gegen alle Regeln des guten Geschmacks unterwandern. Das Grand-Prix-Nachschlagewerk von Jan Feddersen trägt den für viele heute fast schon unheilvoll klingenden Titel „Ein Lied kann eine Brücke sein“. Trägt auch er Mitschuld an der modernen Entwicklung, dass nach der Fußball-Europameisterschaft, die 2012 in Polen und der Ukraine stattfindet, nun auch der gute Geschmack von postkommunistischen und mit einem Übermaß an nachbarschaftlicher Brüderlichkeit ausgestatteten Gesellschaften geprägt wird. Nein, denn ebenso wie Nicole nur von ein „bisschen“ Frieden sang, ging Feddersen davon aus, dass es mit einer Brücke (über den ansonsten aber seine Funktion erfüllenden eisernen Vorhang) getan wäre.

Wer sind dann aber die Schuldigen für das westliche Schlagerdilemma? Die Ursachen liegen jedenfalls deutlich tiefer, als dass sie mit einem kulturellen „Kalten Krieg im Wohnzimmer“ auszumerzen wären. Auch der Vorschlag, künftig beim Grand Prix zwei Qualifikationsstaffeln einzuführen und damit die gute alte europäische Trennung in Ost und West wieder einzuführen, wie es Ralph Siegel fordert, wird das „Problem“ nicht aus der Welt schaffen. Zwar hätte auch dies nicht den Sieg der (ausgerechnet!) serbischen Sängerin Marija Serifovic verhindert, denn wie der Tagesspiegel nachrechnete, hätte Serbien auch ohne Osteuropa den Contest gewonnen. Zudem müsste sich gerade Siegel nur zu gut daran erinnern können, dass es keiner Osteuropäer bedarf, um ihn lächerlich zu machen. Es sei denn, man nähme die Aufteilung in Ost und West nicht nur in geografischer, sondern in geschmacklicher Hinsicht vor und lagerte die Vertreter der deutschen Spaßgesellschaft und des Sittenverfalls wie Stefan Raab (Alf Igel), Guildo Horn, oder aber israelische Transsexuelle und finnische Gruselrocker wie Lordi kurzerhand in die Oststaffel aus.

Wenn der diesjährige deutsche Vertreter Roger Cicero seinen Nachfolgern den Tipp gibt, künftig „serbisch zu singen“, so mag dies der Kommentar eines frustrierten Künstlers und zudem schlechten Verlierers gewesen sein. Aber er ist auch symptomatisch: Im Westen weiß man weder, wie noch was und in welcher Sprache man sich künftig äußern sollte, um gehört zu werden. Zieht man eine zugegebenermaßen gewagte Parallele zur Politik auf europäischer Ebene, so lässt sich ein ähnliches Phänomen beobachten. Auch hier herrscht Sprachlosigkeit in einer uneinigen Gemeinschaft, die weder weiß, wofür sie steht, noch, wer eigentlich zu ihr gehört und wo ihre Grenzen liegen. Und auch hier hat man den Eindruck, dass es gerade die Osteuropäer sind, die sich dem Europagedanken verpflichtet fühlen, während er im Westen nur noch rudimentär vorhanden ist und eher ein Synonym für eine „neue Gefahr aus dem Osten“ darstellt – unabhängig davon, ob diese nun in Form von Billigarbeitern oder Schlagersängern daherkommt. Insofern ist es eigentlich nur konsequent, dass der Grand Prix eine osteuropäische Angelegenheit geworden ist. Der Westen – zero points!