Fall Tuğçe Albayrak: Sollen wir dem Mitleid misstrauen?

„Viele ließen sich von diesen Emotionen leiten. Es regierten Reflexe, wo Beherrschung wichtig gewesen wäre.“ Alfons Kaiser bringt die Problematik der Emotionalisierung in seinem FAZ-Kommentar „Misstrauen wir dem Mitleid“ vom 16.6.2015 zum Urteil im Fall Tuğçe Albayrak auf den Punkt.

Das öffentliche Urteil war bereits gesprochen, bevor das Darmstädter Gericht überhaupt zusammengetreten war. Denn die offenbar eindeutige Konstellation, die klare Zuteilbarkeit von Mitleid und Empörung, bot kurz vor Beginn der Adventszeit 2014 ein willkommenes Fressen für die Medien. Eine fast alltägliche Rempelei zwischen Jugendlichen, die ein freilich katastrophales Ende nahm, wurde daraufhin landesweit in die Öffenlichkeit gezerrt und zu einem ereignis stilisiert, das sie niemals war: Ein junges, attraktives und scheinbar bestens integriertes, zukunftsorientiertes und zartes Mädchen, das sich gegen maskuline-prollige und integrationsfeindliche Underclass-Migrantenkinder zur Wehr setzt, um Schwächere zu schützen, also Zivilcourage übt und dafür mit dem Leben bezahlen muss.

Dass das alles nicht ganz so einfach war und ist, zeigte dann der Prozess – deswegen gibt es Gerichtsprozesse, und deswegen lohnt es sich auch, diese abzuwarten. Man hätte natürlich die Möglichkeit, dass die ganze Situation an dem unheilvollen Novemberabend in und vor dem Offenbacher Fastfood-Restaurant nicht ganz so märchenhaft übersichtlich war, auch schon zuvor erwägen und sich entsprechend mit Vorverurteilungen zurückhalten können, aber dazu war das mediale und politische Potenzial der konstruierbaren Storyline einfach zu groß.

„Die Empörung macht es sich aber so leicht wie das Mitleid“, schreibt Kaiser in seinem Kommentar und erinnert Öffentlichkeit wie Medien einmal wieder daran, dass selbst bei glasklar anmutender Eindeutigkeit und scheinbar alternativloser Schwarz-Weiß-Sicht besonnene Aufarbeitung, ergebnisoffene Analyse und emotionslose Beurteilung den Kern jeder Rechtstaatlichkeit ausmacht.

Als Appell für Gefühllosigkeit sollte Alfons Kaisers „Misstrauen gegenüber dem Mitleid“ nicht verstanden werden. Das Mitgefühl mit der Familie Albayrak besteht unabhängig von dem Ausgang eines Gerichtsverfahrens – ebenso wie deren Trauer über ihren Verlust auch unabhängig von einem Gerichtsurteil weiterbesteht. Wenn aber Mitleid die gesellschaftliche Fähigkeit, Zusammenhänge objektiv wahrzunehmen – bzw. erkennen zu wollen – trübt, dann ist es kein Mitgefühl mehr, sondern degeneriert zur opfergetriebenen „Auge- um-Auge“-Weltsicht und wird so selbst zu einem Amoklauf gegen die Menschlichkeit.

Meiner Ansicht nach sollte man Tuğçe Albayrak – selbst wenn sie nicht die Ikone der Zivilcourage, zu der sich zwischenzeitlich gemacht wurde, sondern eine normale Jugendliche war – nicht unterstellen, dass sie dies als „gerecht“ angesehen hätte.

 

Dieser Artikel ist am 17.6.2015 auf der Website BFT Bürgerzeitung erschienen.