„Die zum zweiten Mal in den Fluss steigen, in dem sie beim ersten Mal schon ertrunken sind“

Ein gescheiterter Versuch, das neue Grundsatzprogramm von Bündnis 90 / Die Grünen ernsthaft zu kommentieren

 

Liebe Novo-Redaktion,  lieber Herr Deichmann,

Sie hatten mich gebeten, einen Kommentar über das neue Grundsatzprogramm von Bündnis’90 / Die Grünen zu schreiben.

Ich habe mich nun durch das ellenlange Werk genagt, Wort für Wort, und ich bin – das muss ich Ihnen ehrlicherweise gestehen – ratlos. Ich kann den Auftrag leider nicht erfüllen, ich bin schlicht und ergreifend am Versuch gescheitert, etwas Sinnvolles über dieses Parteiprogramm zu schreiben.

Das Denkwürdigste am neuen Grundsatzprogramm der Bündnisgrünen ist die von ihm ausgehende gähnende Langeweile und das jegliche Fehlen ausformulierter Eckpunkte, die über Floskelniveau hinausgehen und an denen man sich reiben könnte. Wenn man eine Formulierung gefunden hat, die es wert wäre, kritisiert zu werden, findet sich mit 1000-prozentiger Wahrscheinlichkeit im weiteren Verlauf die vollständige Verwässerung.

Die wirklich einzige interessante Formulierung auf den 118 (in Worten: einhundertachtzehn) heruntergeladenen Din-A-4 Seiten des Grundsatzprogramms ist in der Tat der Terminus „Politik auf Kindernasenhöhe“. Zunächst freute ich mich schon, denn dies ist ein dankbarer Aufhänger: Wie schön hätte man die Problematik dieses Begriffes aufzeigen können, nach dem Motto: Wer „Politik auf Kindernasenhöhe“ betreibt, hat noch nie einen Tellerrand gesehen, geschweige denn darüber hinaus. Der Weitblick, den ja der Programmtitel „Grün 2020“ vermuten lässt, endet unter Beibehaltung dieser starken „Bodenhaftung“ am nächsten Gartenzaun. Insbesondere auf die Wissenschaftspolitik hätte man dieses Bild schön übertragen können. Gerade die grüne Angst, genau die Bürgerinnen und Bürger, die es ja scheinbar wert sind, durch immer weitergehende Demokratisierung von Staat und Gesellschaft an nahezu allen Entscheidungen beteiligt zu werden, würden bei einer Weiterentwicklung der Präimplantationsdiagnostik (PID) umgehend perfekte Arier-Embryonen klonen, wäre ja ein schönes Beispiel gewesen. Hier reicht die grüne Weitsicht offensichtlich nicht einmal bis zum Brett vor dem eigenen Kindskopf.

Leider wird aber auch dieser Punkt kaum elaboriert und bleibt leer, wie alle anderen auch. Das Programm besteht ausnahmslos und hektoliterweise aus kaltem, entkoffeiniertem und extrem magenschonenden Kaffee und ollen zuckerfreien Kamellen, bereinigt von jeder Geschmacksnote und grüner Verbalradikalität.

Auch das kann man natürlich als Aufhänger für einen Kommentar nutzen. Aber da es wirklich kaum eine ödere Lektüre als dieses Grundsatzprogramm gibt, fällt es schwer, inhaltlich bissig zu werden, ohne kilometerweit auszuholen. Ich finde es daher sehr schwer, mich in etwas Anderem als in der vollständigen Inhaltsleere und dem vollständigen Realitätsverlust des grünen Friede-Freude-Öko-Kuchen-Gesülzes festzubeißen. Und selbst das mag mir nicht recht gelingen. Es ist wie beim Kaugummikauen: Der Gegendruck kommt ausschließlich von den eigenen Zähnen.

Vielleicht fällt Ihnen noch irgendetwas ein, wie man das aufziehen könnte, ich bin ratlos ob der Leere dieses Programms, es läuft einem wirklich wie Wasser durch die Finger. Für einen Hinweis wäre ich sehr sehr dankbar.

Kollegiale Grüße

 

P.S.: Damit Sie verstehen, was ich meine, habe ich ein paar Zitate angefügt, die getroffene Aussagen sofort verwässern oder erst gar nicht treffen. Vielleicht können Sie ja was daraus machen.

  • Wissenschaft: Die Freiheit von Wissenschaft und Forschung ist ein zentraler Wert demokratischer Verfassungen… Deswegen kritisieren wir die Gentechnik da, wo sie den Menschen in seiner Würde angreift, indem sie ethische Grenzen ignoriert oder durch die Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen unverantwortliche Risiken schafft… Unsere Kritik an der Nukleartechnik schließt die Fusionstechnologie ein, deren – unwahrscheinliche – Verwirklichung unbeherrschbare Folgeprobleme für Umwelt und Gesellschaft schaffen würde… Doch bündnisgrüne Politik erschöpft sich nicht im Warnen.
  • PID: Die Menschen in unserer Gesellschaft sind eigenständiger und selbstbewusster geworden… Die Präimplantationsdiagnostik als eine Methode zur Selektion behinderten Lebens bei künstlicher Befruchtung lehnen wir ab, auch wenn sie für einzelne betroffene Elternpaare eine zusätzliche Entscheidungsoption sein mag.
  • Verkehr: Mobilität ist… eine Grundbedingung individueller Entfaltung sowie sozialer und wirtschaftlicher Teilhabe… Unsere Ziele sind deshalb: Unsinnigen Verkehr vermeiden, Straßen- und Flugverkehr auf die Schiene verlagern, Emissionen vermeiden.
  • Medizin: Ziel… ist ein Gesundheitssystem, in dem alle in Deutschland lebenden Menschen freien Zugang zu den… notwendigen Leistungen erhalten… Der medizinische Fortschritt stellt uns vor die Frage, ob das technisch Mögliche auch das moralisch Vertretbare sowie das gesellschaftlich Richtige ist.

 

Erschienen in Novo58/59, Mai 2002