Casus Kretzschmar: Raus aus der infantilen Betroffenheitskultur

Die Aussage von Ex-Handballstar Stefan Kretschmar, es gäbe in Deutschland keine Meinungsfreiheit, hat für einige Aufregung gesorgt – doch leider ohne neue Impulse zu setzen. Weder überraschte der Versuch der AfD, diese Aussage zu instrumentalisieren, noch das reflexhafte Zähnefletschen der deutschen Leitmedien, die immer dann anschlagen, wenn etwas auch nur entfernt nach Kritik an ihrer eigenen Rolle riecht. Eines kann man der öffentlichen Auseinandersetzung auf jeden Fall bescheinigen: fehlende Robustheit im Umgang mit abweichenden Meinungen.

Nein, Stefan Kretschmar hat nicht herausgefunden, dass die Bundesregierung in einem unbeobachteten Moment Artikel 5 des Grundgesetzes ersatzlos gestrichen hat. Er hatte lediglich in einem Interview gesagt, dass heute Sportler, die sich nicht an die von Vereinen und Sponsoren erwünschte inhaltliche Zurückhaltung hielten, sehr schnell „etwas auf die Fresse“ bekämen. Diese Feststellung hatte er mit der Aussage verbunden, dass es keine Meinungsfreiheit mehr gäbe.

Natürlich kann man sich nun zurücklehnen und, wie es einige Kommentatoren taten, süffisant lächelnd retournieren, dass allein die weite Verbreitung von Kretschmars Aussage diese inhaltlich bereits widerlege. Man kann auch entgegnen, dass es Provokateuren und Menschen mit einer kantigen Meinung nicht gut zu Gesicht steht, sich jammernd über Gegenwind zu beschweren. Jedoch blieb es in der „Causa Kretschmar“ nicht dabei, sondern einige Kommentatoren begannen ihrerseits, eine peinlich-oberflächliche Debatte über die unendlichen Weiten der deutschen Meinungsfreiheit und die geradezu absurde Haltlosigkeit von Kretschmars „gefühlter“ Unfreiheit anzustoßen.

Freiheit wird als Belastung empfunden
Seit Jahren flackern immer wieder ähnlich gelagerte Debatten über Meinungsfreiheit auf. Trotz der allseits beschworenen Wichtigkeit dieses Rechts für die Demokratie fällt auf, dass in den beständig wiederkehrenden Diskussionen nie der aus dieser Freiheit erwachsende inhaltliche Reichtum gefeiert sondern zumeist die Gefahren und die Zumutungen betont werden, unter denen wir zu leiden hätten. Tatsächlich hat keine einzige politische und rechtliche Entscheidung der letzten Jahre zu einer Ausweitung der Rede- und Meinungsäußerung geführt. Stattdessen geht es immer um die Notwendigkeit von Grenzen – und von enger gezogenen Grenzen –, um die Menschen vor den „Auswüchsen“ und „Missbräuchen“ der Meinungsfreiheit zu schützen. Je häufiger diese Notwendigkeit beschworen wird, desto logischer erscheint es, dass diese Schutz und Sicherheit suggerierenden Begrenzungen auch im Alltag „spürbar“ sein müssen, um die versichernde Wirkung zu erzielen.

Dass der Schutz der Meinungsfreiheit im Grundgesetz verankert ist, bedeutet nicht, dass die Art und Weise, in der dieses Freiheitsrecht in der gesellschaftlichen und politischen Praxis interpretiert und gelebt wird, nicht deutlichen Veränderungen ausgesetzt ist. Denn schon allein die fortwährende Diskussion über die Grenzen des Zumutbaren hat zur Folge, dass der Fokus des Interesses auf den Grenzgebieten und Grauzonen und nicht mehr auf dem tatsächlichen und beständigen Nutzen dieser Freiheit liegt. Es scheint, als würde der eigentlich sinnstiftende und zivilisatorische Wert der Meinungsfreiheit darin bestehen zu definieren, ab wo sie nicht mehr zu gelten hat. Wir haben es mit einer geradezu obsessiven Konzentration auf Verstöße und Verletzungen zu tun, durch die wir die eigentliche positive Dimension der Meinungsfreiheit langsam aber sicher aus dem Blick verlieren.

Freie Gesellschaft oder betreute Schutzzone?
An und für sich ist der Schutz der Meinungsfreiheit eine ehrenvolle Tätigkeit. Doch wenn Meinungsfreiheit in erster Linie als stetig rumorender Grenzkonflikt interpretiert wird, verändert sich auch die Interpretation dessen, was als Verletzung dieser Freiheit verstanden wird. In der heutigen politischen Kultur gilt es als Verstoß gegen die Meinungsfreiheit, wenn jemand etwas sagt, das sich „nicht gehört“. Der Fokus hat sich verändert: Es geht nicht darum, um jeden Preis zu verhindern, dass jemand seine Meinung nicht sagen darf, sondern darum, konkret die Inhalte zu bestimmen, auf die das Privileg der Freiheit keine Anwendung finden darf. Jemandem das Recht auf Meinungsäußerung zu verwehren, kann daher in dieser Lesart durchaus mit dem Schutz der Meinungsfreiheit begründet werden – vorausgesetzt, er vertritt die falschen Inhalte. Die Wächter der Meinungsfreiheit richten ihre Speere also nicht mehr nach außen und gegen jede Form der äußeren Bedrohung, sondern sie beäugen von außen das Treiben innerhalb des Freiraums und ziehen jede Aussage samt Protagonisten aus dem Verkehr, um, wie sie es sehen, die Freiheit zu schützen. Aus dem Freiraum für kontroverse und mit harten Bandagen geführte inhaltliche Auseinandersetzungen wird so ein betreuter Spielplatz, auf dem sich möglichst niemand verletzt fühlt.

Wie ist diese Veränderung im Verständnis der Meinungsfreiheit zu erklären? Ein zentraler Aspekt ist mit Sicherheit das dem gegenwärtigen Gesellschafts- und Demokratieverständnis zugrunde liegende Menschenbild. Von der Vorstellung, dass erwachsene und mündige Bürger über Kontroversen und Kompromisse gemeinschaftlich Verantwortung für ihr demokratisches Gemeinwesen übernehmen, sind wir im Jahr 2019 sehr weit entfernt. Politik wird nicht als rechenschaftspflichtige Repräsentanz des demokratischen Souveräns gesehen, sondern als weitgehend vom Wählerwillen abgeschottete Zentrale für pädagogische und politische Gesellschaftslenkung. Die demokratische Kontrolle politischer Prozesse durch die Wähler ist auf einige wenige Bereiche reduziert, und deren Relevanz schwindet weiter – nicht durch offensichtlich antidemokratische Maßnahmen, sondern durch die fortschreitende Relativierung und Aushöhlung des demokratischen staatsbürgerlichen Selbstbewusstseins.

Freiheit muss aktiv genutzt werden
Im politischen Diskurs ist der mündige Bürger als zentraler Ansprechpartner in den Hintergrund geraten – zugunsten des zu schützenden Verbrauchers. Nicht von ungefähr haben sich Verbraucheraktionismus und Verbraucherschutzpolitik einerseits sowie Umwelt- und Klimaschutz andererseits gerade in Zeiten entwickelt, die von Politikverdrossenheit und der Abkehr der Bürger vom demokratischen Prozess geprägt waren. Hierbei handelte es sich nicht einfach nur um eine Verschiebung von Interessenlagen, sondern in erster Linie um eine Neubestimmung der eigenen Rolle: Während der klassische politisch mündige Bürger seine Freiheiten gegen staatliche Einmischung verteidigt, fordern Verbraucher vom Staat Schutz und Sicherheit. Nur zu gerne kommt der Staat dem Wunsch nach Schutz und Sicherheit nach und befördert das Sicherheitsbedürfnis. Schließlich garantiert diese Position eine neue Art von Anerkennung und Legitimation, die sich aus dem schrumpfenden politischen Selbstvertrauen und der daraus erwachsenden Passivität der Menschen speist.

In diesem gesellschaftlichen Klima steht nicht die Kritik an der allgegenwärtigen Präsenz und der Übergriffigkeit der Obrigkeiten im Zentrum, sondern es wird zunehmend die vermeintliche Schwäche und der fehlenden Durchgriff der Staatsmacht angeprangert. Sehr deutlich wird dies auch in den Debatten um die Meinungsfreiheit. Hier gilt es gerade in den sich als modern, weltoffen und kosmopolitisch definierenden gesellschaftlichen Kreisen als geradezu „logisch“, den Staat zur Hilfe zu rufen, wenn es darum geht, geschützte und sichere Zonen des zivilisierten Diskurses vor Störungen abzuschirmen. Die befestigten und scharf zu verteidigenden Grenzen der Meinungsfreiheit gewinnen so in der Mitte der Gesellschaft, wo Robustheit und Schroffheit immer häufiger als Ruhestörung und Belästigung gelten, eine zusätzliche kulturell-ästhetische Legitimation. Es ist diese pseudoelitäre Idee, dass nur gediegene Inhalte in den Genuss kommen sollten, frei geäußert werden zu dürfen, die die Debatten über Meinungsfreiheit in eine gefährliche Richtung wenden.

Ohne Robustheit keine Freiheit
Denn eigentlich interessiert sich Meinungsfreiheit ganz und gar nicht für Inhalte. Sie gilt für alle Inhalte und ohne Vorbehalt, oder sie gilt überhaupt nicht. Der dem französischen Aufklärer Voltaire zugeschriebene Satz, demzufolge das Recht auf freie Meinungsäußerung gerade dem zuzubilligen sei, dessen Meinung man selbst verabscheue, beschreibt genau diese tatsächliche Stärke der Toleranz, die allerdings gesellschaftliche Robustheit und Mündigkeit voraussetzt. Unsere Gesellschaft erlebt nach Jahren der schweigend und passiv hingenommenen Alternativlosigkeit ein Aufleben polarisierter und emotionalisierter Debatten. Das ist zwar nicht immer angenehm und auch nicht immer zivilisiert, das Problem lässt sich aber nicht dadurch beheben, dass man immer mehr Aussagen ächtet oder verbietet. Im Gegenteil: Damit gesellschaftliche Auseinandersetzungen langfristig versachlicht werden können, ist es hilfreich, selbst Sachlichkeit an den Tag zu legen und sich der Empörungskultur zu verweigern. Dazu gehört auch, nicht bei jeder Geschmacklosigkeit oder Absurdität sofort Verbote zu fordern. Zur Sachlichkeit gehört auch die Bereitschaft, an der eigenen Robustheit zu arbeiten und diese auch von anderen einzufordern. Robustheit ist ein erster Schritt auf dem Weg aus der infantilen Betroffenheitskultur heraus in eine erwachsene Mündigkeit. Wenn Stefan Kretschmar das gemeint haben sollte, dann hat er Recht.

Dieser Artikel ist in gekürzter Fassung am 20. Januar 2019 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.