Weniger Bauch und mehr Kopf, bitte!


Für viele ist die Welt ein düsterer Ort, weil die Menschen angeblich so wenige Gefühle zulassen. Stattdessen lässt unsere Welt dem Verstand kaum noch Luft zum Atmen. Warum uns ein stärkeres Besinnen auf den Geist der Aufklärung gut tun würde, auch im Kampf gegen den Terror.

Empathie ist die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, deren Emotionen zu erkennen, zu verstehen und mit ihnen zu fühlen. Um Empathie zu entwickeln, sind mehrere Faktoren von Bedeutung: Man muss den Anderen ernst nehmen und ihm auf Augenhöhe begegnen wollen. Zudem muss man sich selbst und seine eigenen Gefühle abgrenzen, um sich einer anderen Person widmen zu können. Landläufig verschwimmen jedoch die Unterschiede zwischen Empathie und Mitleid. Als „empathisch“ gilt im Alltag jemand, der Gefühle zeigt und auf das Gefühlezeigen anderer angemessen reagiert.

Kein gesunder Geist könnte etwas dagegen haben, dass Menschen empathisch sind oder Mitgefühl zeigen. Immerhin sind dies zentrale menschliche Eigenschaften. In unserem heutigen Verständnis werden Menschen häufig danach bewertet, ob sie in der Lage sind, Empathie und Mitgefühl zu entwickeln. An dieser Frage entscheidet sich, ob jemand als im positiven Sinne „menschlich“ gilt.

Wer Gefühle zeigt, ist beliebt

Oft wird dabei jedoch vergessen oder verdrängt, dass nicht nur die Empathie, sondern noch viel stärker die Fähigkeit zur Rationalität den Menschen charakterisiert. Während rationales Denken aber als beeinflussbar, korrumpierbar, aufgesetzt und letztlich als unpersönlich und kalt betrachtet wird, gilt uns heute die Welt der Gefühle als Quell menschlicher Unmittelbarkeit und Echtheit – und zwar sowohl auf der Ebene zwischenmenschlicher Beziehungen als auch in der Gesellschaft. Mit der Aussage, dass die moderne Welt zu kalt und rational sei und bestimmten Gefühlen wie etwa dem der Bedrohtheit und der Verletzlichkeit zu wenig Bedeutung beigemessen werde, ist es heute ein Leichtes, populär zu sein.

Dies war nicht immer so. Mit dem Entstehen des modernen aufklärerischen Denkens entfaltete sich ein Menschenbild, in dem zusätzlich zur Fähigkeit zu tiefen Emotionen auch die zum intelligenten und rationalen Denken als gegeben angenommen wurde. Auf den Ausbau wie auch auf die Untrennbarkeit dieser beiden Fähigkeiten setzt der Humanismus in seinem Bestreben, die Welt zu einem besseren, weil menschlicheren und freieren, Ort zu machen. Die Philosophie der Aufklärung sieht gerade in der Kombination aus emotio und ratio – wir würden heute sagen, aus Kopf und Bauch – die Einzigartigkeit der menschlichen Existenz, deren Bewahrung davon abhängt, beide Eigenschaften weiterzuentwickeln und in einem ausgewogenen Verhältnis zu halten.

Diese Ausgewogenheit ist heute aus den Fugen. Der moderne Zeitgeist diagnostiziert eine übermächtige Rationalität und sieht als Konsequenz Emotion und Empathie als knapper werdende Ressourcen an. Gleichzeitig gilt aber auch der einzelne Mensch als unfähig zu rationalem Denken. Ob als Verbraucher, als Wähler oder im Privatleben: In fast jedem Bereich des Lebens wird uns von Wissenschaftlern bescheinigt, irrational zu handeln und nicht unserem eigenen Willen, so dieser überhaupt vorhanden ist, zu folgen. Fazit: Rationalität hat in der modernen Weltsicht ausgedient – zwar nicht als zerstörerischer Faktor, wohl aber als menschliche Eigenschaft, auf die man positiv Bezug nehmen könnte.

Die doppelte Verneinung der Menschlichkeit

Die Betonung der Empathie ist ein Kernelement des modernen und nicht von Optimismus geprägten Menschenbildes. Hoffnung auf Besserung gibt es kaum, schließlich wird dem Menschen nicht nur die Fähigkeit zur Rationalität, sondern zugleich auch die Empathiefähigkeit abgesprochen. Der moderne Zeitgeist schafft es also nicht nur, Ratio und Emotion als sich gegenseitig ausschließende Eigenschaften zu deuten. Es gelingt ihm auch, den modernen Menschen als zu beidem unfähig darzustellen. Diese doppelte Verneinung der Menschlichkeit ist vielleicht der deutlichste Hinweis darauf, wie stark das moderne Denken von misanthropischen Adern durchzogen ist.

Die uns heute als selbstverständlich geltende Gegensätzlichkeit von Ratio und Emotio führt im Lebensalltag dazu, dass letztere häufig stark subjektiv und in bewusster Abgrenzung zur Objektivität definiert wird. Anders formuliert: Der „rationale Typ“ setzt sich eher selten mit der „menschlichen“ und gefühlsbetonenden Seite der Welt auseinander, da ihm der Fokus auf Emotionalität weder als objektiv noch als zielgerichtet gilt. Diese Haltung bringt ihm wegen des Mangels an Empathie den Ruf ein, kalt und unmenschlich zu sein.

Demgegenüber tendiert der „empathische Typ“ dazu, „trotz aller Schlechtigkeit der Welt“ Gefühle zu zeigen und auch auf der Gefühlsebene zu reagieren. Sein Bezug zur Welt ist stark persönlich geprägt, weshalb er Gefahr läuft, in seiner Empathie stärker um sich selbst zu kreisen als um den Anderen. Dies kann bis hin zu einer fortgeschrittenen Kurzsichtigkeit gegenüber dem vielleicht aus menschlicher Sicht viel Notwendigeren führen, denn die Aufwertung der Gefühlsebene führt zu einer Ausbreitung bereits existierender persönlicher Befindlichkeiten und Vorurteile. Diese Tendenz bringt dem empathischen Typen zwar auch Skepsis ein, dennoch gilt er zumeist als menschlich, wenn auch vielleicht als zu idealistisch und verträumt, als „zu ambitioniert“.

Selbstbezogene Emotionalität als Weltsicht

Wie unsere Gesellschaft die „emotionale“ Orientierung heute der rationalen vorzieht, kann man besonders gut überall dort feststellen, wo beide Haltungen inhaltlich aufeinandertreffen, wie etwa in der modernen Charity-Kultur. Obwohl das Spendensammeln für einen guten Zweck realistischen Zielen dienen und daher so zweckmäßig wie möglich sein soll, ist das Gefühl – die persönliche Betroffenheit oder das schlechte Gewissen – der entscheidende Treiber des Handelns. Rational betrachtet wäre es ein Leichtes, festzustellen, dass die Bekämpfung von Durchfallerkrankungen in der Dritten Welt sehr einfach und schnell eine unvorstellbar große Anzahl von Menschenleben, insbesondere Kinder, retten könnte. Doch beim Spendensammeln spielt Durchfall kaum eine Rolle; man konzentriert sich auf prominentere Krankheiten, auch wenn diese weniger verbreitet sind und weniger Schaden anrichten. Der Komiker und Physiker Vince Ebert erklärte dieses Phänomen einmal so einfach wie bitter: Es ist einfacher netter, eine rote Schleife zu tragen als eine braune.

Beispiele wie diese zeigen, dass unsere Welt in ganz vielen Bereichen tatsächlich nicht von kalter und wissenschaftlicher Rationalität, sondern von selbstbezogener Empathie dominiert wird. Schlimmer sogar: Die Welt droht in kopfloser Empathie zu ertrinken. Daher tendieren wir dazu, das Naheliegende zu tun – und nicht das Sinnvolle. Die Pick-and-Choose-Kultur, in der der rational-kühle Blick in die Welt verpönt ist, garantiert aus zwei Gründen keine moralisch hochwertigen Entscheidungen: Zum einen resultiert aus der Prominenz des Gefühls eine enorme Kurzsichtigkeit im Umgang mit realen Problemen. Zum anderen überfordert unsere Konzentration auf Befindlichkeiten die urmenschliche Empathie, über die jeder Einzelne verfügt. Diese Überforderung lässt Empathie umschlagen in Zynismus, Selbstzweifel und in Misanthropie, da aus dieser Perspektive das Scheitern der eigenen Ansprüche als verkraftbar erscheint.

Opfer-Islam gegen westliche Opfer-Kultur

Tatsächlich haben einige der größten Probleme unserer Zeit viel mit dem hohen Stellenwert individueller Gefühlslagen zu tun. Unser Fokus auf Befindlichkeiten, unsere Präferenz für die Opferperspektive sowie die fehlende Robustheit stehen auf Kriegsfuß mit Werten, Freiheiten und Rechten, die auf der Stärke und der Entwicklungsfähigkeit des Individuums aufbauen. Offensichtlich wird dies im Umgang westlicher Gesellschaften mit dem islamistischen Terror. Anstatt diesem mit breiter Brust entgegenzutreten und die Überlegenheit der westlich-aufgeklärten Moderne gegenüber steinzeit-theokratischen Vorstellungen zu demonstrieren, fällt der Westen in eine Schockstarre, in der den Menschen geraten wird sich wegzuducken, sich zu verstecken und zu hoffen, dass der Spuk bald vorbei ist.

Dies ist eine trügerische Hoffnung, denn paradoxerweise ist auch der islamistische Terror ein Produkt der Überemotionalisierung und der Opferkultur: Islamistische Attentäter verfolgen keinen rationalen Plan. Sie handeln spontan und emotional, denn sie sehen sich auf einer Mission zur Rettung der Welt vor allem Ungläubigen, unter dem sie zu leiden haben. Sie bauen darauf, dass sich Muslime in aller Welt von dieser Opferkultur anstecken lassen und dann ebenfalls zu den Waffen greifen. Wir haben es mit einem Konflikt zwischen dem zunehmend wild um sich schlagenden Opfer-Islamismus auf der einen Seite und der zunehmend kopflosen westlichen Opferkultur auf der anderen Seite zu tun, der sich deshalb aufschaukelt, weil Verstand und Rationalität auf beiden Seiten als „haram“ gelten.

Ein bisschen weniger Empathie und Gefühlswallung, dafür mehr robuste Bedachtheit und mehr entschlossene Rationalität könnten die Welt tatsächlich zu einem besseren, menschlicheren Ort machen. Die Lösung ist nicht mehr Bauch, sondern mehr Kopf, und das Ganze mit Hand und Fuß.

Dieser Artikel ist am 11. Juni 2017 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.