Populismus: Eine Stimmung ist noch keine Stimme

Die vergangenen Wahlen zeigen: Weder Verkünder einer rosigen Zukunft noch Warner vor dem bevorstehenden Untergang schaffen es, Wähler in großer Zahl für sich zu gewinnen – sind die Etablierten zu stark oder die Alternativen zu schwach?

Viel wurde in den vergangenen Monaten über „Rechtspopulismus“ diskutiert – rasant und unaufhaltsam erschien sein Aufstieg in der westlichen Welt. Angefangen beim britischen Referendum zum EU-Austritt, den Präsidentschaftswahlen in den USA und der italienischen Volksabstimmung über die Verfassungsänderung. Dann die Wahlen in den Niederlanden, kürzlich die im Saarland, demnächst in Nordrhein-Westfalen, und nicht zu vergessen die anstehenden Urnengänge in Frankreich und schließlich die Bundestagswahlen. Und das alles zusätzlich angeheizt von polarisierendem Sperrfeuer aus Ankara und Moskau und dem islamistischen Terror. Vieles schien darauf hinzudeuten, dass das europäische Superwahljahr 2017 zu einem Siegeszug rechter und nationalistischer Parteien werden würde.

Mehr Wähler, aber nicht aus Protest

Doch schauen wir uns im Frühjahr 2017 in Europa um, so fällt die Analyse ein wenig anders aus. Der Siegeszug der Protestparteien ist ebenso ins Stocken geraten wie der „Schulz-Zug“. Dieser soll die SPD aus dem Stimmungstief ohne Zwischenstopp in die Regierungsverantwortung bringen mitsamt ihrem aus Europa nach Berlin beorderten Kanzlerkandidaten. Weder Verkünder einer rosigen Zukunft noch Warner vor dem unmittelbar bevorstehenden Untergang schaffen es derzeit, Wähler in großer Zahl für sich zu gewinnen. So geschieht etwas, was man lange Zeit nicht mehr hatte: Es gehen mehr Menschen zur Wahl, aber sie tendieren vergleichsweise selten zu Protestwahlen. Tatsächlich wählen sie zumeist etablierte Parteien, allerdings ohne dass sich hieraus eine neu erwachsene Begeisterung ablesen lassen könnte.

In den Niederlanden war dies sehr deutlich sichtbar. Alle beteiligten politischen Kräfte stilisierten die Parlamentswahlen Mitte März zu einem zukunftsentscheidenden Kampf zwischen dem Guten – dem amtierenden rechtsliberalen Premierminister Mark Rutte – und dem Bösen – Geert Wilders von der „Partij voor de Vrijheid“. Doch die niederländischen Wähler entzogen sich dieser Zuspitzung und fügten beiden Seiten eine empfindliche Niederlage zu: Die regierende Koalition aus Rechtsliberalen und Sozialdemokraten verlor die Hälfte ihrer Parlamentssitze. Doch selbst davon konnte die Wilders-Partei kaum profitieren. Schon dieses Wahlergebnis macht deutlich: Die Unzufriedenheit mit dem Status quo führt nicht automatisch dazu, dass die Menschen scharenweise nationalistischen oder fremdenfeindlichen Parteien die Bude einrennen.

Die Siegeszüge stocken

Die Landtagswahl im Saarland bestätigt diesen Trend offenbar. Auch hier konnten weder vollmundige Hoffnungsmacher noch schwarzmalende Angstmacher groß auftrumpfen. Der von der Bundes-SPD „Schulz-Effekt“ fiel dem eilig „Kramp-Karrenbauer-Effekt“ zum Opfer, benannt nach der amtierenden und bestätigten Ministerpräsidentin. Und auch der „Alternative für Deutschland“ blieb nichts anderes übrig, als ihr maues Abschneiden an der Saar als nicht repräsentativ für die ganze Nation zu relativieren. Vom „rechtspopulistischen Aufbruch“ war jedenfalls nichts zu spüren. Seit den Bundestagswahlen im Jahr 2013, bei denen die AfD im Saarland mit 5,2 Prozent noch überdurchschnittlich punktete, hat sie gerade einmal einen einzigen Prozentpunkt hinzugewonnen – trotz einer stark polarisierten gesellschaftlichen Stimmung und einer großen Verdrossenheit gegenüber den etablierten Parteien im Bundestag und insbesondere gegenüber der Großen Koalition in Berlin.

Was die derzeitigen Umfragen wie auch das Ergebnis im Saarland zudem offenbaren: Auch den Grünen gelingt es derzeit nur sehr schwer, Menschen für sich zu begeistern. Mit ihrer altbekannten Mischung aus grün-misanthropischem Alarmismus und der daraus abgeleiteten Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Umsteuerns, bis in das Privatleben hinein, kommen sie momentan kaum von der Stelle – im Saarland sogar nicht einmal mehr in den Landtag. Ganz offensichtlich steckt auch die grüne Variante des Alarmismus in einer Popularitätskrise.

Die Wähler sind klüger als ihr Ruf

Wie ist diese doch recht gering ausfallende Zustimmung zu Protest- und Anti-Parteien zu erklären? Erleben wir eine neue Hinwendung zum politischen Mainstream? Zumindest kann man feststellen, dass die Wähler auf künstliche Zuspitzungen recht gelassen reagieren. Sie lassen sich nicht so einfach provozieren: Parteien, die offen alarmistisch und rigoros argumentieren, erhalten ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl weniger Zuspruch als erwartet. Gleichzeitig bleiben die Bürger aber auch skeptisch gegenüber Heilsversprechen. Zwar kann die SPD mit einem frisch gekürten und als „neu“ und „authentisch“ geltenden Kanzlerkandidaten mehr Sympathiepunkte auf sich vereinen als ohne einen solchen – es wäre aber auch seltsam, wenn nicht. Hier werden die nächsten Monate zeigen, ob die schon jetzt ohrenbetäubende inhaltliche Stille der bisherigen Auftritte von Martin Schulz ein Dauerzustand bleibt oder ob noch politischer Proviant aufgeladen wird.

Ist das Ausbleiben der befürchteten populistisch geprägten Wählerrevolte ein Anzeichen einer schon wieder einsetzenden Politikverdrossenheit? Wohl kaum, denn die Wahlbeteiligung bleibt hoch. Dies deutet eher darauf hin, dass die Wähler sehr viel reifer sind und sehr viel gründlicher über ihre Wahlentscheidungen nachdenken, als so mancher Experte oder Politiker annimmt. Sie sind eben nicht durch ein paar flotte, freche und kecke Sprüche zu verführen und zu radikalisieren, wie angenommen. Dies wäre eine Schlussfolgerung, die der Politik nicht nur Deutschland angesichts der Bundestagswahl, sondern auch Europa gut zu Gesicht stünde. Die Menschen sind nicht nur wenig anfällig für politische Clowns und Scharfmacher, sie reagieren auch empfindlich darauf, wenn man ihnen genau das vorwirft.

Alternativen ohne Inhalte

Besonders empfindlich reagieren die Wähler beim Thema „EU“. Viele wählen gegen die als überbordend empfundene EU-Regulierungswut und die Beschimpfungen aus Brüssel. Die werden immer dann laut, wenn mal wieder eine Volksabstimmung zu einer kleinen Abrechnung mit den EU-Bürokraten geraten ist. Die Bereitschaft, den Stimmzettel zum Denkzettel zu machen, ist weiterhin groß. Aber, und das ist die gute Nachricht, es braucht mehr, um in Europa im Jahr 2017 große Teile der Wählerschaft hinter sich zu vereinen. Die Offenheit für Alternativen ist zweifellos gestiegen, diese müssen aber auch fundiert sein, wenn sie Stimmungen in Stimmen umwandeln wollen. Derzeit gelingt das nicht.

Auch die Demoskopen müssen lernen, die derzeitige Situation neu einzuschätzen. Umfragen erfahren zunehmend Beachtung und die Befragten nutzen sie bewusst, um ein Zeichen zu setzen. Ein Denkzettel per Umfrageergebnis hat auf die Politik einen größeren Einfluss als jedes andere bürgerschaftliche Handeln. Dass die Wahlergebnisse die Demoskopen zuletzt häufiger überraschten, zeigt, dass die erfragte Stimmungslage nicht unbedingt in der Wahlkabine obsiegt. Vor allem dann nicht, wenn keine überzeugende Alternative am Start ist. Als Entwarnung sollten Merkel & Co. die vergangenen Wahlen also eher nicht sehen. Die Menschen wählen allein deshalb weiterhin vorrangig Etablierte, weil sie die inhaltliche Leere der angebotenen Alternativen durchschauen. Eine neu entfachte Liebe ist das nicht.

Dieser Artikel ist am 2. April 2017 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.