Politik im Schülerstreik: „Dann geh doch zu Greta!“


Nichts ist dagegen einzuwenden, wenn Schüler für eine bessere Welt demonstrieren. Das Problem ist, dass sich die Politik der Erwachsenen kaum von der anklagenden Jugend-Attitüde unterscheidet. Die politische Auseinandersetzung in der westlichen Welt wird im Schema von Kindermärchen geführt.

Anfang Mai 1986, kurz nach meinem 15. Geburtstag, erwachte mein Interesse für „die Welt“. Soeben hatte sich der Atomunfall in Tschernobyl ereignet, und in meiner Klasse 9e gesellte sich zur allgegenwärtigen Pubertät eine neue, mir bislang noch fremde Gefühlslage hinzu: der Weltschmerz, verbunden mit Angst vor dem sicheren Tod und einer Abscheu gegenüber den Politikern und Erwachsenen im Allgemeinen. Als Ende der achtziger Jahre mit den „Republikanern“ eine rechte Protestpartei bei Wahlen für Furore sorgte, trieb mich erneut die Angst um. Vervielfacht wurde diese Angst mit der ab Ende 1989 plötzlich über das Land hereinbrechenden Wiedervereinigung. Viertes Reich, Rechtsradikale in den Parlamenten, Radioaktivität allenthalben, und dazu stets schweigende und aus reiner Bequemlichkeit und Spießigkeit beschwichtigende Erwachsene: In diesem Denken wurde ich selbst erwachsen. Angst vor der Zukunft als Auslöser einer geistigen Entwicklung: Das funktionierte schon früher.

 Ertrunken im Jungbrunnen

„Politisch sein“ bedeutete für mich damals, mit den Mitläufern aus der Welt der Erwachsenen gerade nicht zu diskutieren. Man mied sie auf dem Schulhof: Sie waren die Karohosen- und Kofferträgerfraktion, die zielstrebig dem Abitur entgegeneilte, ohne sich von der sicheren Apokalypse vom geradlinigen Weg abbringen zu lassen. „Politisch sein“ hieß „richtig sein“, den einen, richtigen Blick haben für die Wirklichkeit. Irgendwann später hatte ich das Glück, mit Sichtweisen konfrontiert zu werden, die mir die Naivität meiner bisherigen Haltung deutlich machten, von der ich mich dann zu lösen begann. Zu stark waren die Gegenargumente und zu groß meine Neugier, als dass ich hätte umkehren und wieder auf die alte Weise mein Unglück genießen können.

Meine durch Tschernobyl politisch sozialisierte Generation hat nun gut die Hälfte des Lebens hinter sich. Durch Greta Thunberg wird uns bewusst, wie lang die Anfänge der eigenen angstpolitischen Sozialisation schon zurückliegen. Wenn ich heute die streikenden Schüler sehe, erinnere ich mich an meine eigene damalige Weltsicht. Ihre Motivation ist weder neu, noch ist sie an sich ein Problem. Der Unterschied zur Situation von vor 30 Jahren besteht darin, dass sich die heutige Politik der Erwachsenen in ihrer intellektuellen Qualität von dieser sehr emotionalisierten, moralisierenden und anklagenden Jugend-Attitüde kaum mehr unterscheidet. Sie scheint immer weniger in der Lage zu sein, den Jugendelan in eigene politische Kanäle zu lenken. Lieber lässt sie sich selbst im Strom der Entrüsteten treiben in der Hoffnung, die Jugendlichkeit möge zumindest ein wenig auf sie abfärben – auch wenn sie droht, in diesem Jungbrunnen zu ertrinken.

 Die Gretafrage nach der Mündigkeit

Der gesellschaftliche Prozess der politischen Entwicklung und Reifung von Jugendlichen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert. Oder besser gesagt: Er ist ins Stocken geraten. Verwundern sollte dies nicht, da sich nicht nur die Themen verändert haben, sondern auch die Art und Weise der Auseinandersetzung. Da kontroverse und auch harte politische Debatten heute kaum noch geführt werden, schwindet auch der Stimulus, der Menschen aller Altersgruppen dazu bringt, die eigene Haltung zu hinterfragen und sich zu verändern. Ohne in Debatten und Kontroversen entwickelte, geschulte und entsprechend robuste Haltungen schmilzt ein weiterer gewichtiger Aspekt der modernen politischen Kultur dahin: der Unterschied zwischen Jugendlichen und Erwachsenen. Dies führt dazu, dass Kinder und Jugendliche heute nicht mehr als das wahrgenommen werden, was sie sind – kindliche Mahner mit einem sich gerade entfaltenden politischen Bewusstsein –, sondern als bereits fertige und vor allem unverfälschte Visionäre. Nur so ist zu erklären, dass einerseits über desinteressierte Jugendliche lamentiert wird, man ihnen aber andererseits in immer jüngeren Jahren das Wahlrecht aufdrücken möchte.

Der unterbrochene Reifungsprozess führt dazu, dass viele Erwachsene der komplexen Welt heute so hilflos und passiv gegenüberstehen, dass sie die naive Einfachheit der jugendlichen Weltsicht nur allzu gerne übernehmen, beziehungsweise einfach beibehalten. „Politik nervt“, sagen viele heute, weil sie keine klaren Richtungen mehr zu definieren imstande sind, von der Entwicklung klarer Lösungen ganz zu schweigen. Aus diesem Morast der Komplexität heraus entsteht die Sehnsucht nach einer „Basta“-Politik, nicht mehr im Schröder‘schen Duktus, sondern eher in einer kindlich-bockigen Variante, die man in Anlehnung an einen derzeit populären Werbeslogan so formulieren kann: „Dann geh doch zu Greta!“

Ohne Reibung keine Reifung

Die Infantilisierung der Politik hat eine zentrale Ursache: Die kindliche-naive emotionale Weltsicht kann dann in der Welt der Erwachsenen überleben, wenn Erwachsene politisch nicht mehr integriert oder ernsthaft in die Verantwortung genommen werden. Genau dies ist in der modernen Gesellschaft der Fall. Da Erwachsene zunehmend wie Kinder behandelt werden, kann es nicht verwundern, dass Kinder heute teilweise als authentischer und echter gelten als die Erwachsenen mit ihrem verzweifelten Ringen um Autorität und Durchblick. Diesen jugendlichen Hang zur Emotionalisierung von Politik kennt man aus den späten sechziger Jahren, in denen es zur Maxime erhoben wurde, „keinem über 30“ zu trauen. Doch damals wurden diese Strömungen noch konterkariert durch den gleichzeitigen Trend zur Theoretisierung von Politik sowie durch einen institutionellen Riegel, der diese Weltsicht von der Welt der offiziellen Politik fernhielt. Diese beiden Gegengewichte führten zu einer gewissen Abnutzung, aber auch zu einer gewissen Reifung.

Doch diese Reibung und Reifung erzeugenden Barrieren existieren heute nicht mehr. Die Politik operiert heute ganz offen im kindlichen Politikmodus – und das nicht mehr nur alljährlich anlässlich der Klimakonferenz, in deren Nachgang Greta Thunberg Weltberühmtheit erlangte. Der Aufstieg der Opfer- und Identitätspolitik, in der es hauptsächlich um narzisstische Betroffenheiten geht, ist ein weiterer Beleg für den zunehmend unerwachsenen Umgang mit der komplexen Wirklichkeit und mit Widersprüchen. Einen letzten Beleg für die rasende Verkindlichung von Politik lieferte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron mit seinem jammervoll-drohenden Brief an die EU-Öffentlichkeit.

Politik im Märchenmodus von Gut gegen Böse

Die politische Auseinandersetzung in der westlichen Welt ist mittlerweile auf dem Niveau von Kindermärchen angelangt: Alles reduziert sich auf einen Kampf von Gut gegen Böse. Unschuldige und angstgetriebene Teenager aus wohlsituierten Mittelklassefamilien – oder so wirken wollende Erwachsene – lehnen sich gegen böse und untergangsverliebte Trumpeltiere oder Brexiteers auf und beschwören die Apokalypse. Jeder, der nicht in das Klagelied einstimmt, wird der dunklen Seite der Macht zugewiesen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann warnen sie noch heute.

Das klingt alles nicht besonders hoffnungsvoll. Und dennoch kommen die Dinge in Bewegung, denn Menschen sind von Natur aus neugierig. Und immer mehr neugierige Menschen erkennen, dass es einer ganz anderen Art von Politik und politischer Auseinandersetzung bedarf, einer, in der jeder durch Gegendruck und Gegenargumente zur schrittweisen politischen Reifung der Öffentlichkeit beitragen kann. Jedes einzelne Hinterfragen des konformistischen Zeitgeists ist ein Schritt in diese Richtung. Dieser Prozess trägt bereits Früchte, denn an immer mehr Stellen opponieren Menschen gegen die politische Untergangsrhetorik und gegen kindisch-moralische Erpressungsversuche. Das ist das Positive: So gerne wir vielleicht manchmal Kinder sein oder bleiben wollen, selbst die überzeugtesten Kinder werden erwachsen. Auch Greta.

Dieser Artikel ist zuerst am 17. März 2019 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.