Martin Luther: Freiheitskämpfer wider Willen


Martin Luthers Aufstand gegen die Katholische Kirche hat maßgeblich zur Individualisierung der westlichen Kultur beigetragen. Dabei war der Reformator keineswegs ein großer Freiheitsfreund. Eine Annäherung an das Erbe der Reformation aus humanistischer Sicht.

Vor ziemlich genau 500 Jahren brachte der Augustinermönch und „Doctor theologiae“ Martin Luther seinen Unmut über den geschäftsmäßigen Handel mit Ablassbriefen in der Kirche in Form eines öffentlichen Thesenpapiers zum Ausdruck. Er konnte nicht ahnen, welche Entwicklungen dadurch ausgelöst wurden. Was 1517 eigentlich als theologischer und innerreligiöser Beitrag zur Stabilisierung der Kirche in 95 Thesen gedacht war, wurde zu einem Katalysator wichtiger und historisch einzigartiger gesellschaftlicher Entwicklungen: der Erosion kirchlicher Einheit und Autorität, des Auseinanderbrechens von Religion und Politik, der Legitimierung von Ungehorsam sowie der Aufwertung der individuellen und später auch politischen Freiheit des Menschen.

Weder Politiker noch Revolutionär

Luther war weder ein Politiker noch willentlich ein Revolutionär. Sein Ziel war keineswegs die Schwächung kirchlicher Autorität, sondern im Gegenteil deren Bewahrung durch das Einfordern ehrlicherer und moralisch reinerer Glaubens- und Handlungsstandards in Kirche und Gesellschaft. Um dies zu erreichen, sah sich Luther gezwungen, gegen die existierende kirchliche Autorität zu rebellieren. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen“, lautet der überlieferte weltberühmte Ausspruch Luthers angesichts der gegen ihn erhobenen Anschuldigung, die Autorität des Papstes in ketzerischer Art und Weise herausgefordert zu haben.

Dieses Aufbegehren Luthers setzte eine Kette von Ereignissen in Gang, in deren Verlauf nicht nur die Einheit der christlichen Kirche aufgelöst wurde. Sondern auch die bis dahin untrennbare Einheit von Macht und moralischer Autorität, von Politik und Religion und letztlich auch von Gesellschaft und Individuum. Auch wenn Luther genau dies nicht wollte: Sein Ungehorsam definierte erste Bruchstellen und öffnete Risse und Spalten, in denen sich das Bewusstsein individueller Freiheit sowie der Zulässigkeit von Widerstand überhaupt erst entwickeln konnte.

Das Ende des kirchlichen Moralmonopols

Schon allein durch die Betonung seiner ganz persönlichen Beziehung zu Gott stellte Luther die bisherige religiöse Dogmatik grundlegend infrage. Die hier zum Ausdruck kommende Annahme, dass der innere Glaube und das Gewissen des einzelnen Menschen größer und stärker sind als jede Form religiöser und politischer Macht, erschütterte die bis dahin vorherrschende Sichtweise. Bislang erschien einzig der Klerus als möglicher Vermittler zwischen Gott und der Masse der Gläubigen: Die Geistlichen allein lasen und interpretierten die heiligen Schriften und leiteten daraus die Moralvorstellungen ab, denen die Gläubigen kritiklos zu folgen hatten, wenn sie nicht als Ketzer aus der religiösen Ordnung ausgestoßen werden wollten.

Mit Luthers Kritik am kirchlichen Moral- und Integritätsmangel erschienen die Idee der Verpflichtung zum individuellen Widerstand ebenso wie die Annahme, dass persönliche Freiheit als ein der öffentlichen Macht entgegengesetzter Pol zu betrachten ist, erstmals in dieser Deutlichkeit auf der Tagesordnung der Zivilisationsgeschichte. Vor diesem Hintergrund ist auch Luthers Übersetzung der Bibel ins Deutsche zu bewerten: Erstmals sollten die Gläubigen selbst die Möglichkeit haben, Gottes Wort zu lesen und sich seiner Autorität unmittelbar zu unterwerfen. Kein Wunder, dass dies in der römisch-katholischen Kirche als Angriff auf das eigene Interpretations-Monopols betrachtet wurde.

Kein Freund des freien Willens

Dennoch wäre es ein Irrtum, Martin Luther als einen Vorläufer des modernen Freiheitskämpfers zu sehen. Wenngleich mit seinem Namen in die Richtung deutende Entwicklungen verbunden werden: Mit der echten Freiheit des Individuums hatte er nur sehr wenig am Hut. Tatsächlich waren Philosophen und Theologen wie etwa Thomas von Aquin oder dann auch Erasmus der Vorstellung von der Handlungsfreiheit des Einzelnen sehr viel stärker zugetan als Luther. In der katholischen Theologie ist die Vorstellung weit verbreitet, dass es Teil der menschlichen Natur sei, tatkräftig nach dem Guten und nach Erlösung durch und in Gott zu streben.

Auf genau dieser Annahme basiert ja nicht nur das Sakrament der Beichte, sondern auch die Logik eben jenes Ablasshandels, dessen Auswüchse Luther so scharf kritisiert hatte. Für ihn stand in der menschlichen Natur eher die Ohnmacht gegen das inhärente Böse im Vordergrund. Nicht durch eigene Taten, sondern einzig durch Gottes Gnade war Erlösung für ihn möglich. Ein freier Wille gegenüber Gott war für Luther völlig abwegig, was auch erklärt, warum er selbst im Kampf gegen Häretiker und Ketzer überaus kompromisslos war. Mit Abstrichen denkbar war für ihn jedoch ein gewisser Freiheitsspielraum in der säkularen Welt, mit und unter weltlichen Herrschern.

Kritik an Autorität begünstigte den Absolutismus

Diese von Luther aufgeworfene Unterscheidung zwischen spiritueller und säkularer Welt hatte in der Folge paradoxe Konsequenzen: Einerseits öffnete sich langfristig neuer Raum für die Entwicklung individuellen Selbstbewusstseins sowie für die Vorstellung, dass der Mensch innerlich frei und seine Seele unantastbar sei. Andererseits beförderte genau dies kurzfristig die Entstehung einer neuen, von religiös-moralischen Vorstellungen entbundenen Form der Herrschaft: des Absolutismus. Gerade das Argument, dass die Seele des Einzelnen unabhängig von weltlichen Ereignissen und Handlungen vor Gott unverletzlich sei, sollte die Menschen bedingungslos duld- und gehorsam halten, entband jedoch die Herrscher jeder Verpflichtung, sich den Maßstäben christlicher Ethik unterzuordnen.

Die mittelalterlichen Bindungen zwischen Herrschaft und Moral wurden zerschlagen: Das Austragen von Kriegen wurde in einer Absolutheit und Brutalität möglich, wie es vorher kaum vorstellbar war. Gleichzeitig aber blieb die Möglichkeit religiös motivierten Ungehorsams und Widerstands als Luthers Erbe grundsätzlich bestehen: Sie führte dazu, dass sich das politisch erwachende und mächtiger werdende Bürgertum in seinem Streben nach Freiheit und Entwicklung durchaus direkt und unmittelbar gegen die Autoritäten stellte. Der „Protestantismus“ spielte im so entstehenden bürgerlichen Selbstverständnis eine wichtige Rolle.

Kritischer Ungehorsam vor unkritischem Gehorsam

In gewisser Weise legte Martin Luther mit seinen 95 Thesen den Grundstein für eine sowohl ideelle als auch gesellschaftliche Entwicklung, in deren Verlauf es immer selbstverständlicher wurde, dass der Mensch als handelndes Subjekt Verantwortung für sein eigenes Schicksal übernimmt. Luther wollte das nicht, zu negativ war sein Menschenbild. Und dennoch trug er mit seinem Handeln dazu bei, dass sich die Menschen entgegen seiner eigenen Vorstellung weiterentwickelten. Bis heute prägt der von Luther aufgeworfene Konflikt zwischen der Autorität der Macht und dem Streben nach individueller Freiheit und die in diesem Spannungsverhältnis florierende Idee des rechtmäßigen Ungehorsams und der Freiheit unser modernes Denken. Unkritischer Gehorsam gilt heute gemeinhin als ewiggestrig und als „nicht von dieser Welt“.

Das bedeutet jedoch keineswegs, dass es aus der Welt ist. Absolutheitsansprüche, Annahmen der Alternativlosigkeit sowie das Verfolgen, Ausgrenzen und Mundtotmachen von Andersdenkenden sind auch heute noch allgegenwärtig, und dies nicht nur in fernen Ländern und Kulturen, sondern mitten in der westlichen Zivilisation. Deren Errungenschaften zu verteidigen ist eine tagtägliche Verpflichtung, der man nicht durch Nachfolgen gerecht wird, sondern durch selbstbewusstes Vorangehen. Martin Luther war weiß Gott kein Freund des Menschen und auch nicht der Freiheit. Im Gegenteil: Der heute erreichte Grad an individueller Selbstbestimmung würde ihn erschauern lassen. Aber immerhin war er doch Mensch genug, um sich von seinem eigenen Denken und Glauben leiten zu lassen und sich gegen Autoritäten zu stellen. Dieser Beitrag zur Geschichte der Menschheit ist ein wichtiger – ganz gleich, ob man selbst nun religiös ist oder nicht.

Dieser Artikel ist am 29. Oktober 2017 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.