„Marsch für die Wissenschaft“: Wahrheitssuche auf dem Holzweg

Die weltweite Bewegung „March for Science“ demonstriert gegen alternative Fakten und für freie Wissenschaft und Forschung. Jedoch wird bei aller Überschwänglichkeit verkannt, dass Wissenschaft gerade von Kritik, Diskussion und unterschiedlichen Standpunkten lebt. Die absolute Wahrheit gibt es nicht.

Der öffentliche Kampf gegen Lüge und Realitätsverdrehung wird mittlerweile als eine „neue globale Bewegung“ inszeniert: Am 22. April 2017 protestierten weltweit hunderttausende Menschen auf sogenannten Märschen für die Wissenschaft gegen das Umsichgreifen von Unwahrheit und Unwissenschaftlichkeit. Diese sich an den „Marsch der Frauen“ gegen den neugewählten US-Präsidenten Donald Trump anlehnende Initiative will „für die Freiheit von Wissenschaft und Forschung auf der ganzen Welt“ demonstrieren. Dutzende Wissenschaftsinstitutionen, aber auch Organisationen der Zivilgesellschaft und der Politik unterstützten in Deutschland die Aktionen, an denen sich nach Angaben der Veranstalter etwa 37.000 Teilnehmer in 22 Städten beteiligten.

Die Zielsetzung der Initiative klingt zunächst grundsätzlich vernünftig. Wer würde schon gerne von sich behaupten, sich nicht um Fakten zu scheren und stattdessen einem wissenschaftsfeindlichen Weltbild anzuhängen? So heißt es denn auch auf der deutschen Website der Veranstalter: „Kritisches Denken und fundiertes Urteilen setzt voraus, dass es verlässliche Kriterien gibt, die es erlauben, die Wertigkeit von Informationen einzuordnen. Wenn jedoch wissenschaftlich fundierte Tatsachen geleugnet, relativiert oder lediglich ‚alternativen Fakten‘ als gleichwertig gegenübergestellt werden, um daraus politisches Kapital zu schlagen, wird jedem konstruktiven Dialog die Basis entzogen.“ So weit, so Allgemeinplatz.

Schulmediziner und Homöopathen Seit‘ an Seit‘?

Bei genauerer Betrachtung kommen Zweifel auf, ob es sich bei den „Marches for Science“ wirklich um fortschrittliche Initiativen zur Rettung des rationalen Denkens handelt. Die bewusst wachsweiche und unpräzise Formulierung der Zielsetzungen wirkt eher wie ein Versuch, einen möglichst unkontroversen und somit breiten Nenner für eine globale „Bewegung“ zu beschreiben. Dies verwundert, denn gerade Themen mit direktem (Natur-) Wissenschaftsbezug gehören heute zu den am häufigsten kontrovers diskutierten. Wie sinnvoll sind da gemeinsame Nenner ohne jede inhaltliche Bedeutung? Doch offenbar gibt es weder bei Initiatoren noch bei Teilnehmern einen gesteigerten Bedarf an inhaltlicher Vorab-Klärung, welche Art von Wissenschaft und welche Art von Experten hier eigentlich „verteidigt“ werden sollen.

Beim gedanklichen Weitermarschieren tauchen weitere Fragen am Horizont auf: Geht es den Initiatoren um die Verteidigung und Wertschätzung der abstrakten wissenschaftlichen Methode? Geht es um Rolle und Stellung von „Experten“ allgemein, oder betreffen die Überlegungen nur diejenigen, denen man zustimmt? Was ist eigentlich mit Wissenschaftlern, die Minderheitenpositionen vertreten oder mittlerweile widerlegt wurden? Geht es auch um die Verteidigung moderner Biowissenschaften, um Gen- und Nanotechnik? Wenn Biotechnologen und Impfgegner, Schulmediziner und Homöopathen sowie Atomphysiker und Anthropologen gemeinsam marschieren sollen – wohin um Himmels Willen soll diese Reise gehen, und warum?

Wissenschaft gut – Politik schlecht?

Irritierend ist auch das Nebeneinander von betont unpolitischen und eindeutig politischen Beweggründen, die auf den Märschen zum Ausdruck kamen. Häufig hieß es, diese seien keine „politischen“ Proteste, gleichzeitig machten aber die Initiatoren selbst deutlich, es gehe auch darum, „auf die Gefahren durch populistische Tendenzen hinzuweisen“. Es ist genau die angeblich klare Trennung zwischen Wissenschaftlichkeit und Ehrlichkeit auf der einen und Politik und persönlicher Meinung auf der anderen Seite, die zum Ausgangspunkt stark moralisierender Argumentationen führt – nicht zuletzt auch durch die Nutzung einer eindeutig politischen Form der Meinungsäußerung, nämlich der des Demonstrationszuges. Es ist ganz offensichtlich, dass hier die Dimensionen verschwimmen und vermischt werden.

Denn es ist genau diese Vermischung, die die emotional aufgeladene Debatte über „fake news“, über „alternative Fakten“ und über das Verhältnis von Wissenschaft zur Politik kennzeichnet. Das Fatale daran: Meinungsverschiedenheiten werden nicht mehr als politische Konflikte ausgetragen, sondern zu einem Kampf zwischen Wahrheit und Lüge stilisiert. Während die eine Seite Wissenschaft, Neutralität, Richtigkeit und „common sense“ für sich reklamiert und das Verfolgen persönlicher und enger politischer Interessen strikt von sich weist, werden der anderen Seite niedere, persönliche, mithin „politische“ Motive unterstellt. Im Gegenzug werfen die so Angegriffenen ihrerseits der Gegenseite vor, sie missbrauche Wissenschaft, um eigene politische Interessen zu verhüllen.

Diese Polarisierung läuft aus mehreren Gründen der wissenschaftlichen Methode zuwider: Zum einen verbietet wissenschaftliches Denken jede Annahme einer unfehlbaren Wahrheit, weshalb der permanente Zweifel und der offene Widerspruch nicht nur toleriert, sondern als Korrektiv zwingend benötigt wird. Kritik und Disput sind elementare Stützen der wissenschaftlichen Methode, deren Ziel nicht die Festlegung „absoluter Wahrheiten“, sondern eine immer genauere Annäherung an wissenschaftliche Erklär- und Nachweisbarkeiten, mithin das wortwörtliche „Aufklären“ ist. Auf Basis dieser Methode können also weder Wahrheiten auf ewig festgeschrieben noch „Unwahrheiten“ aus dem Diskussionsbereich ausgeschlossen werden. Daher basiert auch jeder Versuch, wissenschaftlich komplexe Debatten für beendet und bestimmte Sichtweisen und Einschätzungen für endgültig erwiesen zu erklären, nicht auf Wissenschaft, sondern auf Meinung. Wer dennoch in diese Richtung tendiert, verwechselt Wissenschaft mit Dogmatismus.

Ohne Zweifel keine Wahrheit

Zum anderen führt die Polarisierung zwischen dem „Wahren“ und dem „Falschen“ einen Ton in die öffentliche Debatte ein, der nicht nur der wissenschaftlichen Ergebnisoffenheit widerspricht, sondern zugleich auch freiheits- und fortschrittsfeindlich ist. So werden bestimmte Faktenlagen zu unfehlbaren, quasi-religiösen Dogmen deklariert und als Munition antiaufklärerischen Denkens missbraucht. Dies hat zur Folge, dass die Freiheit nicht nur des Denkens, sondern auch des Redens, Schreibens, Lesens und Hörens nicht mehr als Wegbereiterin des Fortschritts, sondern als Komplizin der Häresie betrachtet und entsprechend bekämpft wird. In der heutigen Debatte wird häufig angeführt, die Meinungsfreiheit müsse beschränkt werden, um die Wahrheit zu „schützen“. Tatsächlich aber befördert selbst die wohlmeinendste Zensur nicht wahrhaftiges und robustes, sondern allein konformistisches und ängstliches Denken.

Schon im 19. Jahrhundert argumentierte der britische Philosoph, Ökonom und einflussreiche liberale Denker John Stuart Mill, dass alle Versuche, das Recht auf freie Rede zu beschränken, Ausdruck der angenommenen Unfehlbarkeit staatlicher Autorität seien und damit als unmittelbare Angriffe auf die Wahrheit abgewehrt werden müssten. Von dieser Definition einer konstruktiven, den Zielen den Aufklärung folgenden Denk- und Debattenkultur sind wir heute nicht nur weit entfernt, sondern wir entfernen uns auch immer weiter davon. Unsere Auseinandersetzungskultur ist höchst emotional und hysterisch, alarmistisch und ängstlich. Sie tendiert dazu, „Wahrheiten“ dadurch zu verabsolutieren, dass sie sie der Notwendigkeit enthebt, sich gegen Kritik zu behaupten. So werden immer mehr Themenbereiche „tabuisiert“ und jeder Kritik entzogen. Wenn man sich an diese Diskussionsbeschränkungen nicht hält, gilt man schnell als „Leugner“, als „notorischer Querulant“, als „Verharmloser“ oder eben als „Lügner“ und „Faker“.

March for Science als politische Aktivität

Je weiter Tabuisierung und Polarisierung getrieben werden, desto weniger wird unterschieden zwischen den verschiedenen Positionen, die außerhalb des Konsenses stehen. Deren Differenzierung erscheint auch nicht wichtig, denn was zählt, ist die Ausgrenzung vom Mainstream. Und so verschwimmen offensichtliche Lügen und abweichende Interpretationen von Fakten zu einem ungenießbaren Brei, den man, um ihm keine größere Beachtung mehr schenken zu müssen, kurzerhand mit dem wenig wissenschaftlichen Begriff „populistisch“ tituliert. Es ist bezeichnend, dass die „Märsche für die Wissenschaft“ den Widerstand gegen „populistische Tendenzen“ als eins ihrer zentralen Ziele beschreiben. Dies macht sie zu eindeutig politischen Aktivitäten. Dagegen ist nichts einzuwenden. Man sollte sich nur darüber im Klaren sein: Wer seine eigene Einstellung als wissenschaftlich-neutral und somit als über der Sphäre der politischen Auseinandersetzung stehend verteidigt, tritt nicht nur die politische Kultur mit Füßen, sondern auch die Wissenschaft.

Und mehr noch: Wer glaubt, aus einem Haufen Fakten Wahrheiten destillieren zu können, hat beides nicht verstanden. Wie das halb gefüllte Wasserglas zeigt, kann es auf Basis von Fakten ganz unterschiedliche Wahrheiten geben. Wahrheiten sind Interpretationen von Fakten, kombiniert mit eigenen Blickwinkeln, Überzeugungen und Visionen – sie sind somit etwas viel Größeres, als uns die heutigen „Fakten-Checker“ glauben machen wollen. Unterschiedliche Standpunkte und Überzeugungen einfach darauf zu reduzieren, dass einer von beiden auf einer Lüge basieren muss, ist daher nicht nur kindisch, sondern letztlich auch undemokratisch. Politische Auseinandersetzungen brauchen mehr als den notorischen „Fakten-Check“. Wer sich damit begnügt, beim politischen Gegner nach Lügen zu suchen, bringt selbst nicht den Mut und die gedankliche Stärke auf, die eigene Meinung als solche zu verteidigen.

Dieser Artikel ist am 1. Mai 2017 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen. Wie immerist es lohnenswert, sich die unterschiedlichen Leserreaktionen anzusehen.