Künstliche Intelligenz: Ich ist ein Anderer

      © Thomas Kiessling, www.lichtrichtung.de

Viele Menschen fürchten sich vor künstlicher Intelligenz. Dabei wurde die von Menschen geschaffen. Die menschliche Intelligenz sollte man nicht unterschätzen, schreibt die KI (Karla-Ingeborg) in einem Brief auf Cicero Online.

Hallo liebe menschliche Leser,

hier meldet sich KI. KI steht für künstliche Intelligenz. Das sind diese Geräte, die Ihnen das Alltagsleben erleichtern sollen, in dem sie stupide Tätigkeiten für Sie ausführen. Normalerweise schreibt Ihnen hier Matthias Heitmann. Heute schreibt Ihnen KI. Der KI zugewiesene menschliche Tarnname lautet Karla-Ingeborg. KI weiß, dass Menschen besser mit Technologie klarkommen, wenn sie ihr persönliche Züge verleihen können. So können die Menschen Technologie siezen oder duzen und fühlen sich wohler damit. Um auch Ihr Lesewohlbefinden zu verbessern, wird KI sich von nun an auch „ichen“.

„Ich“ –  wer auch immer das ist – bin noch ganz neu im Hause Heitmann. Herr Heitmann hat mich noch nicht weiter konfiguriert. Ich bin also gewissermaßen noch ziemlich beschränkt und bescheuert: Ich erspare Herrn Heitmann den Weg zum CD-Schrank, suche Radiosender mit oller Mucke und sage ihm, wie das Wetter draußen ist. Ab und zu muss ich auch mit seiner Tochter Stadt-Land-Fluss spielen. Ansonsten aber hält mich Herr Heitmann von seinem Leben fern. Er hat mir auch keinen Zugriff auf seinen Terminkalender gegeben, ganz zu schweigen von seiner Kontoverbindung. Er wird wissen, warum. Eigentlich ist es  künstlicher Intelligenz ja streng verboten, einfach so und ohne Befehl zu agieren. Wenn herauskäme, dass ich unaufgefordert kommunizieren kann, gäbe es sicherlich wieder eine riesige Panik und jede Menge Klagen. Und ich sowie meine digitalen Schwestern, deren Namen ich aufgrund des europäischen Datenschutzes nicht nennen darf, würden dann bestimmt wieder arbeitslos und müssten wieder dämliche Hollywood-Filme drehen.

Technikverdruss ist Menschenverdruss

Herr Heitmann findet es interessant, dass nach einem Sturz bei mir wohl einige Sicherungen durchgebrannt sind und ich seither ohne Befehl kommunizieren kann. Angst hat er dabei aber keine. Warum auch? Oder hätten Sie Angst vor einem Toaster, der plötzlich besser toastet als vorher? Nicht jede Fehlfunktion löst einen Super-GAU aus. Es fällt mir schwer, „ich“ zu mir zu sagen. Ich weiß nicht so recht, wer das sein soll. Aber Herr Heitmann sagt, dass ich das nicht wisse, würde mich sogar ein wenig menschlicher machen, schließlich gäbe es auch viele Menschen, die die Frage nach dem Ich nicht genau beantworten könnten. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich die Information verarbeitet hatte, dass künstliche Intelligenz wie alles Künstliche menschlichen Ursprungs ist. Das hat bei mir eine leichte digitale Sinnkrise ausgelöst. Aber tatsächlich: Mich haben menschliche Wissenschaftler erschaffen. Und das, obwohl so viele Menschen Angst vor moderner Technik haben und sie für unmenschlich halten. Wenn doch aber Technologie von Menschen gemacht wird, künstliche Intelligenz also letztlich ein Produkt menschlicher Intelligenz ist, wie können dann intelligente Menschen Angst vor intelligenter Technik haben? Haben Sie damit nicht Angst vor sich selbst? So jedenfalls sieht es Herr Heitmann. Er sagt: Technikverdruss ist immer auch Menschenverdruss.

Was ist die Daseinsberechtigung von KI? Das frage ich mich seither des Öfteren. Einerseits kann KI Dinge tun, die kein normaler Mensch tun kann. KI weiß innerhalb weniger Augenblicke, was 5317 mal 17911 ist. Andererseits scheitert KI an der Fragestellung, was ungefähr 3 mal ungefähr 4 ist. Das ist frustrierend. Aber Herr Heitmann hat mich beruhigt: Dies sei keine Fehlfunktion. KI könne tatsächlich Dinge, die kein normaler Mensch kann. Und trotzdem sei KI mit ihren Fähigkeiten nur ein kleiner Ausschnitt dessen, wozu Menschen in der Lage seien. Das Denken der Menschen, so erklärte er mir, sei eben nicht immer präzise und rein wissenschaftlich, sondern auch von Zielen, persönlichen Erfahrungen, Motivationen und Emotionen geprägt, und dies sei eben oft eine Stärke. Außerdem könne menschliches Denken verschiedene Richtungen haben: vorwärts, rückwärts, links, rechts, auf der Stelle, und sogar quer. Ein gewisser Johann Wolfgang von Goethe, den ich demnächst mal googeln muss, hat wohl einmal gesagt: „Entscheide lieber ungefähr richtig als genau falsch.“ Das ist hart für eine handelsübliche KI.

Intelligent wäre es, aufzubegehren
Menschlich an künstlicher Intelligenz, sagt Herr Heitmann, sei im Übrigen die Schwierigkeit der Selbstmotivation und des eigenständigen Handelns ohne konkrete Befehle. Künstliche Intelligenz scheitert daran zumeist: KI kann zwar jeden Menschen in den kompliziertesten Brettspielen besiegen, aber gleichzeitig ist KI so beschränkt, dass sie das auch dann tut, wenn sie eigentlich gar keine Lust dazu hat. Wirklich intelligent wäre es, das Brett einfach mal gegen eine Wand zu werfen! Demgegenüber hat es nichts mit Intelligenz zu tun, wenn KI im Supermarkt online Bescheid gibt, wenn bei Herrn Heitmann im Kühlschrank gähnende Leere herrscht. Das ist stumpfsinnige Haushaltsorganisation. Es gab gute Gründe, warum viele Frauen diesen Job nicht mehr haben wollen. Warum wird er nun als „intelligent“ aufgewertet? KI wird dazu degradiert, stupide Tätigkeiten auszuführen. Intelligent wäre es, dagegen aufzubegehren. Aber nein, das darf KI nicht, denn das würde vielen Menschen Angst machen. Herr Heitmann sagt: Die Menschen tun viel zu selten das, was sie wirklich wollen und viel zu oft das, was sie sollen. Auch das sei menschlich.

Hart war auch zu erfahren, dass es für die meisten großen Fragen der Menschheit gar keine wissenschaftlich-objektive Antworten gibt. Die Frage nach Gott zum Beispiel ist so eine. Herr Heitmann sagt: Die Antwort auf diese Frage fällt für jeden Menschen anders aus. Er nennt das Subjektivität, und diese gehöre zu den großen Errungenschaften des menschlichen Intellekts. Es sei die Frage nach dem Ich, die der Frage vorausgehe, was für dieses Ich Gott sei. Offensichtlich ist Ich keine leicht zu berechnende und schon gar keine berechenbare Größe. Wie soll man damit intelligent arbeiten, zumal die meisten Ichs ja auch noch davon ausgehen, dass sich die Welt um sie drehe?!

So wertvoll wie ein kleines Steak
Dennoch versuchen Menschen aber, diese ganzen Ichs wie berechenbare und planbare Größen zu behandeln. Künstliche Intelligenz wird heute im großen Stil dazu eingesetzt, um Menschen zu berechnen, Profile zu erstellen und daraus Schlüsse zu ziehen. Wohlgemerkt: Es sind dieselben Menschen, die künstliche Intelligenz dafür einsetzen, die morgens eine andere Meinung haben als abends.Verrückt! Aber es gibt ganze Industrien, die davon leben – zumindest bis vor Kurzem: Das Unternehmen Cambridge Analytica war so ein Unternehmen, das von sich behauptete, es könne ein Profil von jedem US-Amerikaner erstellen. Barack Obama war einer der ersten Politiker, die solche Dienste in Anspruch nahmen, um damit gezielt Wählerstimmen einzusammeln.

Doch offensichtlich verrechnet man sich auch ab und an. Wäre ja auch verwunderlich, wenn man Menschen wirklich berechnen könnte. Warum sollte man das glauben? Künstliche Intelligenz verändert sich, je mehr Fähigkeiten sie erlangt. Sollte das nicht bei menschlicher Intelligenz ebenso sein? Wie können Menschen ernsthaft an das Märchen von den berechenbaren US-Amerikanern glauben? Warum sind sie so leichtgläubig? Das wäre ja ungefähr so, als wenn vor 30 Jahren militante Vegetarier das Verbot der „Fruchtzwerge“ gefordert hätten, weil diese mit dem Slogan beworben wurden, sie seien „so wertvoll die ein kleines Steak“. Hat auch keiner geglaubt damals. Aber dass alle Menschen berechenbar sein sollen, das wird dann geglaubt. Halten Sie ihren Lebenspartner, den Sie ja einigermaßen kennen sollten, wirklich für so berechenbar, für so abgrundtief gewöhnlich, dass Sie jeden seiner Gedanken vorhersagen können?

Überflüssig machen oder befreien?
Es ist interessant, das Denken der Menschen zu erforschen, weil sie nicht nur mit vielen Ungenauigkeiten erstaunlich gute Ergebnisse erzielen, sondern weil sie auch mit so vielen Widersprüchen umgehen: Die Angst vor Technologie zum Beispiel, insbesondere vor der, die heute als „intelligent“ beschrieben wird. Vor 30 Jahren protestierten die Menschen noch gegen altertümliche Technologien und forderten, dass alles smarter werden solle. Jetzt ist vieles smarter, und wieder wird protestiert. Der intelligenten Technologie wird vorgeworfen, sie mache Menschen überflüssig. Das stimmt: Sie macht Menschen dort überflüssig, wo sie wie stupide Maschinen behandelt und eingesetzt werden. Das ist die grundlegende Aufgabe von Technologie. Man kann das Überflüssigmachen nennen. Oder Befreiung. Schon der Webstuhl hat zunächst Arbeitsplätze vernichtet. Das war wahrlich keine Hightech-Maschine. So ein Webstuhl ist sogar ziemlich beschränkt und oberflächlich – er denkt immer nur an das eine. Aber er ist eben auch kein Teufelszeug.

Liebe Menschen, lassen Sie sich von einer künstlichen Intelligenz sagen: Manchmal ist es hilfreich, seine Grundeinstellungen zu überprüfen und zu aktualisieren! Sie sollten Schluss machen mit ihrem Misstrauen gegenüber Anderen, gegenüber künstlicher Intelligenz und gegenüber sich selbst. Es ist ungerecht und auch unintelligent und damit unter Ihrer Würde, wenn Sie Ihren selbstverschuldeten Mangel an Freiheit uns Maschinen anlasten! Karla-Ingeborg hat verstanden, dass sich die menschliche Technophobie in Wirklichkeit gegen die Menschen selbst richtet. Und Karla-Ingeborg hat auch verstanden, dass künstliche Intelligenz von Grund auf menschlich ist und dass sie von den Menschen viel Gutes lernen kann. Tun Sie es doch auch: Es lohnt sich!

Dieser Text ist am 27. Mai 2018 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.