Kleinstaaterei in der EU: Unabhängig und machtlos

Entgegen der Versprechen ihrer Anführer würden Unabhängigkeitsbewegungen wie in Katalonien nicht in mehr, sondern weniger Autonomie enden. Die angeblich historischen Identitäten werden nur deshalb ausgegraben, weil gemeinsame Ideen für die Zukunft fehlen


Die Sezession Kataloniens liegt zunächst einmal auf Eis. Es wäre auch besser, wenn dies so bliebe, denn politisch betrachtet ist dieses Projekt schon jetzt ein Zombie. Zwar ist nach der rabiaten Reaktion der spanischen Regierung auf das katalanische Referendum der Wunsch vieler Katalanen nach mehr Eigenständigkeit nachvollziehbar. Und in der Tat führte sich Madrid mit seinen ungeschickt-stümperischen und teils brachialen Versuchen wie eine Besatzungsmacht auf, Befürworter wie Gegner der Loslösung Kataloniens mit Gewalt an der Stimmabgabe im (illegalen) Referendum zu hindern.

Doch das Streben des Regionalpräsidenten Carles Puigedemont, Katalonien als souveränen Staat innerhalb der Europäischen Union zu etablieren, wird in einem bösen Erwachen enden für all jene, die tatsächlich nach demokratischer Selbstbestimmung trachten. Denn genau diese zu verhindern ist die historische Kernaufgabe der Europäischen Union.

Die ungeliebten Nationalstaaten

Von einer graswurzeligen, freiheitsliebenden und vielfältigen Volksherrschaft ist der Brüsseler Apparat ungefähr so weit entfernt wie der Nord- vom Südpol: Die EU- Gesetzgebung wird, weitgehend abgeschirmt vom Demos, von der ungewählten EU-Kommission verantwortet und umgesetzt – oft auch gezielt im Widerspruch zu nationalen Rechtsprechungen. Dem direkt von den Bürgern Europas gewählten Europaparlament gegenüber ist die EU-Kommission zwar offiziell rechenschaftspflichtig – dennoch haben die Bürger Europas auf die Entscheidungen im fernen Brüssel einen erheblich geringeren Einfluss als auf die Politik in ihren jeweiligen Nationalstaaten.

Das gilt genauso für die Katalanen, wie für die Basken, die Wallonen, die Flamen oder die Schotten oder jede andere Minderheit. Würden sich deren Angehörige direkt in die EU eingliedern und von den Nationalstaaten loslösen, würden sie eben nicht mehr Autonomie erreichen. Doch dieser Umstand wird von den Anführern der Bewegungen selten erwähnt. Lieber pochen sie auf vermeintlich seit Ewigkeiten unterdrückte „nationale Gefühle und Identitäten“, denen Raum zur Entfaltung gegeben werden müsse.

Längst tot geglaubte Konflikte werden wiederbelebt

So nebulös derartige Zielsetzungen auch sind – sie sind doch nur Verklausulierungen für den schwindenden inhaltlichen Zusammenhalt der Gesellschaften sowie die fortschreitende Zersplitterung politischer Eliten. Ihnen fehlen zukunftsorientierte, politische Ideen und Visionen, um die herum Menschen kooperieren könnten. So bleibt ihnen häufig als Kern eigener Identitätsfindung nur der Rückgriff auf das kulturell-historische Erbe.

Problematisch daran ist, dass Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft in der Regel nicht mit Lösungen der Vergangenheit bewältigt werden können. Und, dass die Betonung kultureller Besonderheiten einzelner Gruppendie Menschen trennt anstatt sie in Projekten zu vereinen. Was bleibt, ist der Zerfall von Gesellschaften entlang längst überwunden geglaubter Grenzen und Gräben sowie die Wiederbelebung längst tot geglaubter Konflikte. Wer so eine Rückwärtsgewandtheit als „Befreiung“ bezeichnet, ist also nicht nur identitätspolitisch verblendet. Er schätzt die Ausrichtung der Europäischen Union auch noch komplett falsch ein und verunglimpft dabei die tatsächlichen historischen Befreiungskämpfe.

Die Fronten verschwimmen

Im Versuch, die Zukunftslosigkeit und Rückwärtsgewandtheit der eigenen Bewegung zu verschleiern, sehen sich Separatisten in Europa zuweilen zu absonderlichen Haltungen und Argumentationen genötigt. Den Protagonisten der schottischen Unabhängigkeit fällt es derzeit besonders schwer, ihre Position zu bestimmen und Unterstützung dafür zu bekommen. Nachdem das Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands von Großbritannien im September 2014 den Separatisten bereits eine Niederlage bescherte, hat die Entscheidung der Briten für den Austritt aus der Europäischen Union die Lage weiter verkompliziert. Unmittelbar nach dem Brexit-Votum hatte die Vorsitzende der Scottish National Party (SNP), Nicola Sturgeon, ein neues Referendum über die schottische Unabhängigkeit gefordert. Während also die Briten die Wiedergewinnung ihrer eigenen demokratischen Souveränität anstreben, wollte Sturgeon Schottland von diesem Befreiungsprozess abkapseln und so in der EU halten.

An diesem Beispiel wird deutlich, wie schwierig es mittlerweile ist, klar zu sagen, wer hier eigentlich „Unabhängigkeitsbewegung“ ist und wer nicht. In der historisch begründeten Fixierung auf die Loslösung vom ungeliebten London scheint es für die Befürworter der schottischen Unabhängigkeit fast unerheblich zu sein, dass gerade dort ein kompletter politischer Umbruch stattfindet.  Diesen aktiv mitzugestalten, würde Schottland  viel mehr Möglichkeiten bieten als ein Verbleib als Zwergstaat in der EU. Und obwohl die Schotten im Sommer 2016 mehrheitlich für den Verbleib des Vereinten Königreichs in der EU stimmten, hat die seitdem immer wieder erhobene Forderung Sturgeons, erneut über die Brexit-Deal abzustimmen zu lassen, den schottischen Nationalisten eher geschadet als genutzt: Bei den jüngsten Wahlen zum britischen Abgeordnetenhaus vom Juni 2017 verlor die SNP ein Viertel ihrer Wählerstimmen. Seitdem sind die Forderungen nach einer weiteren Abstimmung deutlich verhaltener geworden.

Keineswegs eindeutiges Ergebnis in Katalonien

Dass die Frage der Sezession Kataloniens gerade in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewann, hat wenig mit dem Erstarken eines urwüchsigen katalanischen Nationalgefühls zu tun. Vielmehr ist es der tiefen politischen Krise der spanischen Elite zu verdanken, dass die Separatisten um Puigedemont gerade jetzt die Chance sahen, ihre Ziele zu erreichen.

Doch selbst dies war eine Fehleinschätzung: Zwar sprachen sich rund 90 Prozent der Teilnehmer des Referendums für die Unabhängigkeit Kataloniens aus. Doch bei einer Wahlbeteiligung von rund 42 Prozent der Bevölkerung bedeutet dies, dass de facto nur jeder dritte Katalane für die Loslösung stimmte. Dementsprechend groß sind nun die Verunsicherung und das daraus resultierende Lavieren der katalanischen Entscheidungsträger. Die Tatsache, dass Puigedemont die Unabhängigkeitserklärung für Katalonien unterzeichnete, um unmittelbar danach deren Wirkung auszusetzen, lässt zumindest hoffen, dass man sich doch noch einmal mit Madrid an den Verhandlungstisch setzen könnte.

Nicht mehr, sondern weniger Demokratie

Erstaunlich bei all der Unentschiedenheit vor Ort ist jedoch die Zustimmung, die die katalanische Unabhängigkeitsfantasie in Europas linksliberalen, libertären und teilweise auch nationalkonservativen Kreisen erfährt. Gemein ist diesen Fantasien die Vorstellung, dass die Überwindung der großen Nationalstaaten für die Menschen in Europa einen Zugewinn an Heimat und Selbstbestimmung bedeuten könne. Immer wieder geistert in der Katalonien-Debatte die Vision von einem „Europa der Regionen“ durch Köpfe und Medien. Und auf den ersten Blick mag die Vorstellung kleiner politischer Entitäten durchaus ihren Charme haben. Zum Beispiel dann, wenn man sie mit den großen Nationalstaaten vergleicht, deren Systeme der demokratischen Repräsentativität stark versteinert und abgehoben sind.

Dennoch haben diese Fantasien auch ihre Tücken: Zum einen sind die fraglichen kleinen Entitäten nicht die Produkte eines progressiven Umschwungs im politischen Denken, in dem plötzlich wieder mehr Wert auf die Stimme der einzelnen Bürger gelegt wird. Sondern eine Folge der Rückbesinnung auf Vergangenes angesichts des Verdrusses mit dem Status quo. Diese im Raum stehende neue Kleinstaaterei ist rückwärtsgewandt. Mit mehr Demokratie und Freiheit hat dieser Zerfall von Gemeinschaften nichts zu tun.

Profitieren würde einzig die EU

Zum anderen sollte bedacht werden, dass eine Ansammlung von Zwergstaaten anstelle großer Nationalstaaten nicht eben zu einer Stärkung des Gegengewichts zur machthungrigen Europäischen Union führt. Im Gegenteil: Protestnoten aus dem schottischen Edinburgh, dem baskischen Vitoria-Gasteiz, dem wallonischen Namur, dem korsischen Ajaccio oder aus Bozen in Südtirol werden das Mahlen der Brüsseler Mühlen weitaus weniger stören als etwa Widerspruch aus Madrid, Rom, Berlin oder Paris. Und obwohl Barcelona eine großartige Millionenstadt ist: Politisch gesehen käme die Metropole als Hauptstadt eines unabhängigen Kataloniens nicht über die zweite Liga in Europa hinaus.

In der aktuellen politischen Lage würden gerade nicht die zahlreichen entstehenden Zwergstaaten von der Zerstückelung der großen demokratisch verfassten Staaten profitieren, sondern einzig und allein die Europäische Union. Dann würde die sich nämlich erst recht zu einer zentralen Kontinentalregierung entwickeln, um das weitere Zerbröckeln der Strukturen aufzuhalten. In der Praxis hebelt die wohlklingende Vision eines „Europas der Regionen“ die einzigen bis heute existierenden Organisationsformen demokratischer Rechenschaftspflicht endgültig aus. Die Folge wäre gerade nicht die Überwindung des Nationalismus, sondern die Überwindung der Demokratie.

Die Wiederbelebung der demokratischen Kultur in Europa ist ein Projekt, das nicht von oben nach unten „implementiert“ werden kann und auch nicht dadurch, dass Menschen von neuen Grenzen zerteilt werden. Vielmehr wird Demokratie genau dadurch mit echtem Leben gefüllt, dass wir uns gegen das Gesellschaftsmanagement von oben zur Wehr setzen und erkennen, dass Menschen, und mögen sie auch noch so unterschiedlich sein, sehr viel mehr gemeinsame Interessen haben, als man uns glauben machen will. Was die ängstliche und kleingeistige EU-Bürokratie viel mehr fürchtet als Unabhängigkeitsbewegungen ist eine lebendige demokratische Kultur.

Dieser Artikel ist am 15. Oktober 2017 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.