Emscherumbau: Vom Abwasserkanal zur Lebensader

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Es gehört zum guten (pessimistischen) Ton, dass man Großprojekte für unrealistisch hält, als Milliardengräber verteufelt und lieber dem gänseblümchenökologischen „Small is beautiful“-Dogma frönt. Meine Reportage „Vom Abwasserkanal zur Lebensader“ im aktuellen Magazin 51° (S. 4-9) der Stiftung Mercator über dem Umbau des einstmals dreckigsten Flusses Deutschlands, der Emscher im nördlichen Ruhrgebiet, zeigt, dass Großprojekte nicht nur Zeit- und Finanzpläne einhalten können, sondern dass tatsächlich BIG beautiful sein kann, wenn man die Interessen der Menschen in den Mittelpunkt stellt.

Wandel ist machbar, wenn er als gesellschaftliches Großprojekt konzipiert ist. Das nördliche Ruhrgebiet zeigt, wie sich eine ganze Region neu erfinden kann, ohne ihre Vergangenheit zu leugnen.

Zu komplex, zu teuer, zu umstritten, nicht planbar, nicht finanzierbar und deshalb nicht machbar. Argumente wie diese werden gerne gegen Großprojekte ins Feld geführt. Die Wirklichkeit scheint diese Skepsis zu bestätigen: Zu zahlreich sind die Erfahrungen, aufgrund derer man großen Plänen und Versprechungen kritisch gegenübersteht und kleinere Brötchen bevorzugt. Doch nicht überall dominiert die Skepsis. Im nördlichen Ruhrgebiet wird seit vielen Jahren eines der größten Infrastrukturprojekte Europas vorangetrieben, ohne dass von Fehlkalkulationen, Verwerfungen und Zerwürfnissen die Rede ist. Mit seiner Größe, seiner Planungsstabilität und seiner Dauer stellt der Emscherumbau all das in den Schatten, was vielen bereits als zu ambitioniert und nicht machbar gilt. Wer als Ortsfremder vom Emscherumbauprojekt erfährt, kommt aus dem Staunen nicht heraus: Beinahe automatisch beginnt die Suche nach dem Haken. Doch sie bleibt ergebnislos. Wie kann das sein?

„Das Emscherprojekt zeigt, dass Großprojekte erfolgreich sein können, wenn man Mut und Kraft hat, sie mit positiven Bildern und konkreten Visionen zu verbinden“, betont Professor Stefan Siedentop, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Landes- und Stadtentwicklungsforschung in Dortmund. „Seit Jahren reden wir uns in Deutschland ein, nicht mehr zu Großprojekten in der Lage zu sein. Die Emscher beweist, dass es doch geht und dass alle davon profitieren können.“ Veränderung ohne Verlierer, und das ausgerechnet in einer Region, die noch immer mit Niedergang verbunden wird? Vielleicht gerade deswegen.

Wandel ist der Emscher nicht fremd: Als sich Ende des 19. Jahrhunderts die dünn besiedelte Agrarlandschaft in einen industriellen Ballungsraum zu verwandeln beginnt, wird aus dem kleinen, in Holzwickede entspringenden und bei Dinslaken in den Rhein mündenden Fluss ein offenes Abwassersystem – nicht schön, aber lebenswichtig für die rasant wachsenden Industrien und die rasch zunehmende Bevölkerung. Da eine unterirdische Entwässerung wegen der durch den Steinkohleabbau ausgelösten Bodenabsenkungen nicht möglich ist, bleibt die Emscher als einzig möglicher Abwasserweg.

Und auch dieser Abfluss ist gefährdet, denn die besagten Eingriffe ins Erdniveau bringen die Emscher immer wieder ins Stocken – mit fatalen Konsequenzen: Ganze Stadtteile sind monatelang überschwemmt, und es breiten sich Seuchen wie Cholera, Diphtherie oder Typhus aus. Ohne eine regionale Kooperation und übergeordnete Organisation ist die Lage nicht mehr in den Griff zu bekommen: 1899 bilden Bergbau, Industrie und die betroffenen Kommunen die „Emschergenossenschaft“, den ersten deutschen Wasserwirtschaftsverband.

Deren erste Großaufgabe ist es, die Region vor dem Wasser der Emscher zu schützen. In der Folge wird das Flussbett begradigt, tiefergelegt und einbetoniert, abgesunkene Gewässerbereiche werden angehoben und mit Deichen gesichert. „Weltweit gab es nach meiner Kenntnis keinen vergleichbaren Fall, in dem eine komplette Industrieregion über einen einzigen kleinen Fluss entwässert wurde und die Abwässer über eine zentrale Kläranlage geklärt wurden“, beschreibt Siedentop die schwierige Situation. Dieser radikale Eingriff rettet die Menschen in der Region vor der giftigen Abwasserflut – auf Kosten der Emscher, die nun als stinkende Kloake in Richtung Rhein eilt. Die Menschen nennen den biologisch toten Fluss fortan „die schwatte Emscher“ oder „Köttelbecke“. Nähern kann man sich dem dreckigsten Fluss Deutschlands nicht, denn er ist meist eingezäunt. Es muss schließlich verhindert werden, dass Menschen in die Abflussrinne fallen, aus der es kein Entkommen gibt.

„Sicherlich kann man aus heutiger Sicht die Umnutzung des Flusses kritisieren“, räumt Siedentop ein. Aber man sollte nicht zwangsläufig die Vergangenheit verurteilen. „Gerade hier im Ruhrgebiet stehen die Menschen zu ihrem industriellen Erbe. Die alten Zechen werden nicht abgerissen, sondern teilweise bewahrt, und gleichzeitig werden neue Industrien angesiedelt. Man schreitet voran, ohne die Vergangenheit abzuwickeln. Das ist hier wesentlich. Ohne Geschichte ist man nichts.“ Im späten 20. Jahrhundert gefährdet das Zechensterben in der Region die Lebensgrundlage vieler Menschen. Fast alle Arbeitsplätze in der Bergbauindustrie verschwinden. Wieder einmal muss sich das nördliche Ruhrgebiet grundsätzlich wandeln: Dafür sind sowohl Altlasten zu beseitigen als auch neue Perspektiven für die Menschen zu entwickeln – am besten gleichzeitig. Abermals wird die Emscher zum Hebel einer regionalen Umstrukturierung: Sicherte ihr biologisches Ableben vor mehr als 100 Jahren die Zukunft der Region, so soll nun ihre Wiederbelebung zum Startschuss für einen erneuten Aufbruch werden.

Paradoxerweise bietet der Niedergang der Montanindustrie die Chance, die Region zu retten. Denn parallel zum Bergbau enden auch die Bodenabsenkungen, die die Errichtung eines modernen Kanalisationssystems bisher verhinderten. Neue Zeiten brechen an: Den Auftakt bildet die „Internationale Bauausstellung Emscher Park“. Dieses von 1989 bis 1999 laufende Zukunftsprogramm des Landes Nordrhein-Westfalen gibt mit neuen Ideen und Projekten des städtebaulichen, sozialen, kulturellen, ökologischen, aber auch wirtschaftlichen Wandels neue Impulse. Hier werden auch die Pläne zum Emscherumbau veröffentlicht. Das Großprojekt, das Anfang der 1990er-Jahre von der Emschergenossenschaft in Angriff genommen wird und bis heute andauert, basiert darauf, das Abwasser der Region nicht mehr zentral, sondern dezentral zu klären und nicht mehr über den Fluss, sondern über ein abgetrenntes System abzuleiten.

Seit der Inbetriebnahme von vier Großklärwerken zwischen Dortmund-Deusen und der Emschermündung widmet sich die Genossenschaft dem Bau des Abwasserkanals Emscher (AKE): Dieses 51 Kilometer lange unterirdische Bauwerk wird das Rückgrat des modernsten Abwassersystems der Welt. Ab 2017 regeln große Pumpwerke die Fließgeschwindigkeit der unterirdischen Abwasser-Autobahn. Die Emscher wird dann nicht mehr als Abfluss gebraucht, sie wird renaturiert und erhält eine naturnahe, etwa 20 Hektar große Mündungsaue. Das Ruhrgebiet atmet auf, es sieht grüne Landschaften, eine blaue Emscher – und Licht am Horizont.

Um ein Projekt mit einem Umfang von 4,5 Milliarden Euro, einer geplanten Bauzeit von rund 30 Jahren und dieser gesellschaftlichen Tragweite zu stemmen, war ein grundlegendes Umdenken erforderlich. Denn um dem Abwasser neue Wege zu bahnen, bedurfte es zuerst neuer Entscheidungswege. „Im Ruhrgebiet gehört Kooperation nicht unbedingt zu den traditionellen Kernkompetenzen“, formuliert Siedentop vorsichtig. „Diese Herausforderung konnte die Emschergenossenschaft aber nur gemeinsam mit den Anliegerkommunen stemmen.“ Was bedeutete, Städte wie Dortmund, Duisburg, Essen, Bochum und Gelsenkirchen – insgesamt 19 Kommunen – zur Zusammenarbeit zu bewegen.

Brauchte es dazu ein Wunder? „Nein“, sagt Dr. Uli Paetzel, von 2004 bis Anfang 2016 Bürgermeister der Stadt Herten und nun Vorstandsvorsitzender von Emschergenossenschaft und Lippeverband (EGLV). Er betont, dass es die Einzigartigkeit der Herausforderung und der Umstände war, die dabei half, das Kirchturmdenken zu überwinden. „Es gibt kein Geheimrezept, das man einfach so übertragen kann. Beim Emscherumbau kamen mehrere Faktoren zusammen: die Größe des Problems, die unstrittigen Vorteile für alle und die Rolle der Emschergenossenschaft, die nicht nur über die wasserwirtschaftliche und bauliche Erfahrung, sondern auch über die finanziellen Möglichkeiten verfügte, um das Ganze anzustoßen und durchzuziehen.“ Nach Plan verläuft das Generationenprojekt dank einem permanenten internen wie externen Controlling, das dazu beiträgt, rechtzeitig gegen- und umzusteuern.

Inzwischen geht die Dimension des Emscherumbaus weit über die Rettung der Emscher hinaus: „Hier wird nicht nur eine Kanalisation gebaut, sondern wir entwickeln Zukunftschancen für 2,5 Millionen Menschen und die ganze Region“, erklärt Paetzel. Für viele ist Umweltschutz mit Großprojekten und menschlichen sowie wirtschaftlichen Interessen nicht vereinbar. Beim Emscherumbau verbinden sie sich auf eine fast selbstverständliche Art und Weise. Während das Projekt Formen annimmt, werden moderne Technologien einbezogen. „Der Emscherumbau ist ein atmendes Projekt“, betont Paetzel. Nicht von ungefähr gehört es zu den symbolträchtigsten Unternehmungen im Rahmen des Strukturwandels im Ruhrgebiet. Natürlich gab und gibt es hin und wieder Reibungen aufgrund der konkreten Ausgestaltung von Teilaspekten, was aber der allgemeinen Zustimmung zur Gesamtvision keinen Abbruch tat. „Nahezu jeder Bauabschnitt wurde in öffentlichen Anhörungen und Diskussionsveranstaltungen der Bevölkerung präsentiert, und wo es ging, wurden Anliegen und Anregungen der Menschen aufgegriffen“, sagt Paetzel. Die Menschen sehen, dass es auch um ihre Belange geht – und dass es vorwärtsgeht.

Die breite Zustimmung ist auch auf die Offenheit des Projekts zurückzuführen. Viele Zukunftsinitiativen ranken sich um den Emscherumbau. „Wir haben hier in den letzten Jahren ein vielschichtiges Modell zur umweltschonenden Energiegewinnung entwickelt“, erklärt Paetzel. Die Kläranlagen sollen schrittweise zu sogenannten „Hybridkraftwerken“ umgebaut werden, die sich nahezu selbst mit Strom versorgen. Die Zukunftsinitiative „Wasser in der Stadt von morgen“ rückt Wasserwirtschaft, Stadtentwicklung, Freiraumplanung, Klimaanpassung, Straßenbau, Bildung, Kunst und Kultur näher zueinander – eine integrale Wasserwirtschaft leistet damit einen bedeutenden Beitrag zum Leben in den Städten und Metropolregionen von morgen. Im 2006 veröffentlichten Masterplan „Emscher Zukunft“ wurden zahlreiche Einzelprojekte koordiniert und zu einem regionalen Entwicklungskonzept vereint. Durch die neu geschaffenen oder umgebauten Naherholungsbereiche wie den Phoenix-See in Dortmund, den Bernepark bei Bottrop oder das Emschererlebnis beim Kaisergarten in Oberhausen hat die Region ein neues Gesicht bekommen – und auch eine Perspektive, denn allein durch die Infrastrukturmaßnahmen sind bereits Tausende neuer Arbeitsplätze entstanden.

Voraussetzung für den Erfolg ist nicht zuletzt die enge Verzahnung mit unterschiedlichen Trägern wissenschaftlicher Forschung. Diese Zusammenarbeit geht über die wasserwirtschaftlichen Lehrstühle hinaus. Die Forschungs- und Entwicklungsabteilung der Emschergenossenschaft kooperiert auch mit zahlreichen weiteren Forschungsinstituten der Wissenschaftsregion Ruhrgebiet, die sowohl die ökologische als auch die ökonomische Standortentwicklung im Rahmen des Emscherumbaus begleiten und fördern. Ohne den Wissensaustausch mit den Forschungsstätten wäre der Emscherumbau nur ein Bauvorhaben – so wird es zum atmenden, gesellschaftlichen Entwicklungsprojekt. „Atmend“ im wahrsten Sinne des Wortes: Im Januar 2016 zeichnete das Land NRW das Projekt als „Vorreiter für den Klimaschutz“ aus. Es ist damit Teil der landesweiten KlimaExpo. NRW. Landesbauminister Michael Groschek lobte die „positiven Auswirkungen auf den Klimaschutz“ und die Minimierung von CO²-Emissionen durch die hochmoderne Bauausführung.

„Man kann das Emschertal als Perspektiven-Werkstatt bezeichnen“, bestätigt Siedentop. Die umfangreichen Erfahrungen mit diesem Großprojekt legen die Basis für neue Entwicklungen. „Und da reden wir nicht nur von der Bau- oder Wasserwirtschaft, sondern auch von regionaler Infrastrukturentwicklung. Schon heute besuchen immer wieder ausländische Delegationen das Emscherprojekt.“ Auch Paetzel sieht das Potenzial: „Wenn man bedenkt, wie rasant sich manche Gesellschaften entwickeln, dann ist davon auszugehen, dass wir mit unseren Erfahrungen bei der Lösung dortiger Umwelt- und Städtebauprobleme weiterhelfen können.“

Lernen kann man vom Emscherprojekt aber nicht nur in Übersee. Für Siedentop hat der Umbau Signalwirkung für das gesamte Ruhrgebiet, denn er zeigt, dass die Revitalisierung ganzer Industrie- und Naturlandschaften in Angriff genommen werden kann. „Wir brauchen einen Strukturwandel im Denken: Von der Emscher lernen heißt anzuerkennen, dass ein Denken in regionalen Zusammenhängen Erfolg verspricht!“ Man könnte auch sagen: Think big! Dieses Selbstbewusstsein ist wichtig für das Image einer Region, die eine moderne, wissensintensive Standort- und Wirtschaftspolitik betreiben will. „Schon heute“, so Siedentop, der erst vor ein paar Jahren ins Ruhrgebiet übersiedelte, „ist die Lebensqualität im Ruhrgebiet viel besser als ihr Ruf. Hoch qualifizierte Menschen überlegen heute genau, in welcher Region sie arbeiten wollen.“ Und da bilden Wandlungsfähigkeit, Zukunftsorientierung mit Bezug zur Vergangenheit und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten einen enormen Standortvorteil.