Die Versteinmeierung der Politik

Frank-Walter Steinmeier wirkt als Bundespräsident wie ein Narkosearzt, der die verängstigte politische Klasse beruhigen will und soll. Die Welt von heute braucht aber aufgeweckte Geister.

Mit Frank-Walter Steinmeier übernimmt im März 2017 ein Bilderbuch-Apparatschik das Amt des Bundespräsidenten. Schon seine Nominierung durch die Große Koalition löste keine Begeisterungsstürme aus. Nach seiner Wahl scheint man nun gerade hierin einer der zentralen Stärke des neuen Bundespräsidenten sehen zu wollen. Ganz offensichtlich sehnt man sich in stürmischen Zeiten nach einem in sich ruhenden, monoton predigenden und nie die Fassung verlierenden Staatsoberhaupt, gemäß der Logik: Wer nicht begeistert, der polarisiert auch nicht.

Ein Bundespräsident von gestern

Tatsächlich brauchen wir von Steinmeier weder Überraschungen noch ein überschäumendes Sendungsbewusstsein befürchten. Schon Wochen vor seinem eigentlichen Amtsantritt ist klar: Er ist ein Präsident von gestern. Mit seiner Wahl will das politische Berlin sich selbst Kontinuität und Stabilität beweisen. Man versucht so, die Zeiten fortleben zu lassen, in denen Politik aus alternativlosen Konsensschleifen bestand und niemand ernsthaft die demokratische Friedhofsruhe der Republik störte. Niemand verkörpert diese deutsche Konsensdemokratie eindrucksvoller als Steinmeier. Sein Problem: Er erklimmt die höchste Karrierestufe just in dem Moment, in dem der Rückhalt für eben diesen Konsens immer brüchiger wird.

In Zeiten des politischen Auf- und Umbruchs wäre es ein Zeichen der Zuversicht und des politischen Selbstbewusstseins, jemanden in das höchste Staatsamt zu wählen, der die Menschen jenseits des parteipolitischen Alltags inspirieren und ihnen wie auch immer geartete Zukunftsvisionen anbieten kann.

Der politischen Klasse fehlt der Mut

Doch offensichtlich fehlen der deutsche Politik- und Gesellschaftselite Kraft oder Mut oder beides, um ein solches Signal zu setzen. Stattdessen tut man lieber so, als lebten wir immer noch in Zeiten, in denen jede Art politischer Zuspitzung nicht nur unpopulär war, sondern auch irgendwie künstlich wirkte. Das einzige Signal, das tatsächlich von dieser Bundespräsidentenwahl ausgeht, ist das einer Realitätsverleugnung. Es besagt: Seht her, wir haben alles im Griff, alles ist unter Kontrolle, vorhersehbar und wie bisher. Demokratie ist, wenn Entscheidungen alternativlos sind und alle freiwillig an einem Strang ziehen.

Werdegang eines Konsenspolitikers

Frank-Walter Steinmeiers Werdegang ist idealtypisch für einen Konsenspolitiker aus der Zeit der Alternativlosigkeit: Keiner seiner Karriereschritte hing davon ab, ob er von Mehrheiten der Wahlbevölkerung gewählt wurde oder nicht. Als er tatsächlich von den Wählern abhing, als Kanzlerkandidat 2009, ist er krachend gescheitert. Von Parteiämtern oder Mandaten hatte er sich zuvor lange ferngehalten. Stattdessen nutzte er lieber den Technokrateneingang, um an die Schaltstellen der Macht zu gelangen: Zunächst war er war ab 1993 Büroleiter und ab 1996 Staatsekretär der damals noch als niedersächsischer Ministerpräsident in Hannover residierenden sozialdemokratischen Lichtgestalt Gerhard Schröder. Als der 1998 Bundeskanzler wurde, ging Steinmeier mit nach Berlin und wurde dort recht schnell zum Kanzleramtsminister. Er agierte als Manager und Stratege im Hintergrund. In die vorderste politische Reihe trat er erst nach dem Abgang von Schröder, als ihn 2005 die neue Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer ersten Großen Koalition zum Außenminister machte.

Erst nach dem Ende dieser Amtszeit im Jahr 2009 bemühte sich Steinmeier um ein eigenes Bundestagsmandat – gewissermaßen als Absicherung seiner dann schließlich missglückenden Kanzlerkandidatur. Dem gebürtigen Detmolder wurde in Brandenburg ein Wahlkreis angeboten, den er gar nicht verlieren konnte. Auf dieser Basis wurde er dann Fraktionsführer der SPD im Bundestag.

Mit der Neuauflage der Großen Koalition wurde Steinmeier 2013 erneut Merkels Außenminister. Seine Durchbrüche sind untrennbar verbunden mit dem Scheitern seiner Partei, eine Alternative zu Angela Merkel zu entwickeln. Wann immer die SPD verlor, Steinmeier gehörte zu den Gewinnern. Auch das Bundespräsidentenamt hat er letztlich der Merkel‘schen Alternativlosigkeit zu verdanken. Für Auf- oder Ausbrüche hat er weder das Naturell noch die politische Unabhängigkeit.

Ein Produkt der Parteien-Elite

Viele argumentieren, dass gerade diese Ruhe, diese Stabilität und diese bei Steinmeier schon immer spürbare „präsidiale Entrücktheit“ wichtige Eigenschaften seien, die ein Bundespräsident in der heutigen Zeit brauche. Seine Anhänger sehen in ihm nicht nur einen Gegenentwurf zu Donald Trump, sondern auch den ausgleichenden Versöhner, der selbst die aufgebrachtesten Kontrahenten wieder zur Besinnung bringen könne.

Dabei ist Steinmeier, wenn es darum geht, die sich immer weiter öffnende Kluft zwischen der politischen Klasse und den Bürgern zu schließen, eine glatte Fehlbesetzung: Er ist ja selbst ein Produkt dieser abgehobenen Parteien-Elite, er ist das „Role Model“ des bürgerfernen Bürokraten, und wie sein Vorgänger hat er einen Hang zum Kanzeln und Predigen. Dem ehemaligen Pastor Joachim Gauck konnte man das Predigen noch irgendwie verzeihen, auch wenn er teilweise die Schmerzgrenzen arg strapazierte. Wenn aber ein Apparatedemokrat versucht, in ähnlicher Art den mitfühlenden Bundesprediger zu geben, dann droht die angestrebte Beruhigung und Versachlichung in Zwangsbetäubung umzuschlagen.

Die Gesellschaft dürstet nach Alternativen

Das Spannende an der heutigen Zeit ist ja, dass alte politische Gewissheiten und unverrückbar scheinende Allianzen in Bewegung geraten und sich Handlungsspielräume öffnen, die über Jahre unzugänglich waren. Dieser Wandel geschieht nicht, weil es so attraktive Alternativentwürfe gäbe. Die alten politischen Strukturen zerbersten, weil sie in letzten Jahren immer weiter versteinerten. Die demokratischen Institutionen haben sich zu unpolitischen Steuerungszentren entwickelt, da es gar nicht notwendig erschien, das eigene Handeln politisch zu rechtfertigen und dafür zu werben. Genau gegen diese politische Friedhofsruhe begehren die Menschen in vielen Gesellschaften der westlichen Welt auf. Sie wollen Alternativen haben und an welche glauben, egal wie schlecht sie sind.

Die große Politik hat verlernt, mit politischen Wettbewerbern auf demokratische Art und Weise umzugehen. Sie reagiert mit panischen, paranoiden und unappetitlichen Diffamierungen und versucht, politische Widersacher zu dämonisieren, an den Rand zu drängen und Menschen daran zu hindern, deren Ideen und Standpunkte selbst zu überdenken. Somit verschärft sie das Problem der wachsenden Bürgerferne. Das zunehmend zensorische Klima in der Gesellschaft ist eine Folge dieser Unfähig- und Unwilligkeit, mit Dissens und Veränderungen zu leben und beide als Teile einer lebendigen politischen Kultur wertzuschätzen.
Versuch, gerade erwachten Dissens einzuschläfern

In dieser Situation wirkt die Wahl Frank-Walter Steinmeiers zum Bundespräsidenten wie ein hilfloser Versuch, die gerade frisch erwachte Lust am Dissens einzuschläfern und die sich öffnenden Gräben mit allerlei Floskelgeröll notdürftig zuzuschütten. Diese Strategie ist zum Scheitern verurteilt: Es ist gerade die politische Ideen- und Alternativlosigkeit der letzten Jahrzehnte, die es heute zu überwinden gilt. Das Einebnen der politischen Landschaft kann kein Mittel gegen die „Wutbürgerei“ unserer Zeit sein, denn es ist die Ursache für den Verdruss! Es mag paradox klingen: Aber um die stark emotionalisierte und in Teilen auseinanderdriftende Gesellschaft zum Positiven zu verändern, muss man die Konfrontation suchen und die Menschen aufrütteln. Ein „Versöhner“ muss Mauern einreißen, den Menschen auf Augenhöhe begegnen und in ihrer Sprache mit ihnen Tacheles reden.

Für all dies ist ein Bundespräsident Steinmeier gänzlich ungeeignet. Er ist kein Aufrüttler, er ist eher ein Narkosearzt, der versucht, die verängstigte politische Klasse zu beruhigen und wieder in den Schlaf zu wiegen. In diesem Sinne ist auch der Schlusssatz in Steinmeiers Antrittsrede vor der Bundesversammlung zu bewerten: Sein „Lasst uns mutig sein!“ klang wie das Pfeifen im dunklen Keller. Was er meinte, war nicht der Mut zum Aufbruch und zur Veränderung, sondern der Mut, ruhig weiterzuschlafen. Die Welt von heute braucht aber keine schlaftrunkenen Konsenssüchtigen, sondern eigenständige, wache und aufgeweckte Geister.

Dieser Artikel ist am 18.02.2017 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.