Das Gespenst namens Instabilität

Durch Chefetagen und Redaktionsräume geistert das Gespenst der Instabilität. Sein Unwesen treibt es aber im Auftrag der Wähler. Und die hegen lediglich den normalen Wunsch nach Freiheit und Demokratie.

Der„ Spiegel“ nennt die nach dem Scheitern der schwarzgelbgrünen Sondierungsverhandlungen entstandene Situation die „Stunde Null“ der deutschen Demokratie. Das klingt jedoch mehr nach Zusammenbruch als nach Aufbruch. Offensichtlich sehnt man sich nach einer Regierung, fast schon egal, nach welcher. Zugegeben: Als der „Spiegel“ in Druck ging, lag die Neuauflage der gerade erfolgreich abgewählten Großen Koalition noch in etwas weiterer Ferne: Die SPD gab sich weitgehend noch als prinzipientreu-oppositionell, und noch hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Parteiführern noch nicht die Leviten gelesen.

Mittlerweile aber wird frischer Beton angerührt, um das Loch im Schutzwall, den die etablierten Parteien um sich herum errichtet haben und durch das nun Frischluft einzudringen droht, schnell wieder zu verfüllen. Es darf darüber spekuliert werden, wie haltbar solche Ausbesserungsarbeiten sein werden, wenn doch das gesamte Bauwerk schon durch relativ moderate Wählerwanderungen in seinen Grundfesten zu erschüttern ist.

Parteien müssen durchgerüttelt werden

Die tatsächlichen Erschütterungswellen kommen erst noch: Es dauert eine Weile, bis sie die Köpfe erreichen und sie ins Schleudern bringen. Die christdemokratische Schockstarre heuchelt Stabilität, die vor allem daher rührt, dass in der CDU niemand ist, der sich um den Job von Angela Merkel reißen würde oder eine Idee hätte, wie dieser anders zu machen wäre. Vom SPD-Vorsitzenden Martin Schulz wird nun Unmögliches verlangt: Er soll möglichst unbeschadet sein entschiedenes „Nein“ zu einer Zusammenarbeit unter Angela Merkel in ein Verantwortungsbewusstsein und Glaubwürdigkeit signalisierendes „Ja“ umdeuten – oder aber seinem eigenen Nachfolger oder einer Nachfolgerin in den Sattel helfen.

Horst Seehofers Abgang ist hingegen nur noch eine Frage der Zeit: offen ist nur noch, wie sanft die CSU das Ende auszugestalten bereit ist. Den Bündnisgrünen wird es bald dämmern, dass es ein Fehler war, der FDP das vorzuwerfen, was man bisher als Grundpfeiler der eigenen Identität behauptet hatte: fehlende Unterwürfigkeit, Kratzbürstigkeit und ein oppositionelles Urgefühl. Mit der Reaktion auf das Scheitern von Jamaika hat sich die einstige Anti-Partei endgültig zum Wurmfortsatz der Christdemokraten degradiert: Der Vorwurf gegenüber der Lindner-FDP, erstmals in ihrer Geschichte nicht umgefallen zu sein, ist nicht mehr als ein drollig-verzweifelter Versuch, anderen den Morast hinterherzuwerfen, in dem man selbst bis zum Halse steckt.

Wenn Angst in Wählerbeschimpfungen endet

Befeuert wird dieses groteske Szenario von einer tiefsitzenden Angst vor Veränderung – also genau von demselben Treibstoff, der über viele Jahre die Vorherrschaft der Alternativlosigkeit sicherstellte. 28 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer weigert sich die politische Elite der Bundesrepublik, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Wähler nicht nur die Zufuhr von frischer Luft – ganz gleich welcher Geschmacksrichtung – verordnet, sondern auch ein Neu- und Umdenken angemahnt haben, auch wenn die Richtung nicht eindeutig ist.

Daher wurde das Experiment „Jamaika“ zunächst auch von der Öffentlichkeit interessiert beobachtet. Schnell wurde dann aber deutlich, dass politische Engstirnigkeit sowie Fantasie- und Mutlosigkeit keine einfach abzulegenden Marotten, sondern fundamentale politische und persönliche Charakteristika sind. Die Hoffnung, dass sich „frischer Wind“ dadurch vortäuschen ließe, dass die immergleichen Menschen in geschlossenen Räumen ziellos durcheinanderlaufen, musste schnell begraben werden.

In dieser Ernüchterung nun von der SPD doch die Bereitschaft einzufordern, genau das zu tun, was ihre Wähler nicht wollten, und dies als Beleg hoher politischer Verantwortung zu preisen, ist eine Beleidigung der Intelligenz des Souveräns. Der noch amtierende Bundesjustizminister Heiko Maas formulierte dies am 23. November 2017 sehr plastisch in der ZDF-Sendung „Maybrit Illner“: Die SPD könne sich zu der Frage, ob man nicht doch mit der CDU über eine künftige Zusammenarbeit reden wolle, „nicht wie ein trotziges Kind verhalten“, ließ er wissen. Oder anders formuliert: Wer den Wählerauftrag versucht ernst zu nehmen, den hält Maas für einen bockigen Unmündigen.

Nur schillernde Farben auf rissigem Beton

Diese Haltung gegenüber dem Wähler ist bekannt: Sie gehört zum Standardargument einer verzweifelten politischen Klasse, die den Wunsch der Menschen nach Veränderung als einen populistischen Belästigungsversuch und als einen kindischen Angriff auf die nationale Stabilität deutet. Damals wie heute: Die Mauer muss weg! Dass in dieser Situation alles vermieden werden soll, um den Menschen nochmals die Möglichkeit zu geben, ein politisches Beben auszulösen, leuchtet ein. Auch die meisten Wähler sind nicht besonders erpicht darauf, sich erneut zwischen Politikern entscheiden zu müssen, die entweder nicht wollen oder können oder beides. Bunte Bezeichnungen wie „Jamaika“ oder seit Kurzem „Kenia“ (Schwarz-Rot-Grün) verleihen dem Wahlangebot einen exotischen und neuartigen Glanz.

Die letzten Wochen haben aber eindrucksvoll gezeigt, dass es nicht ausreicht, in schillernden Farben „Aufbruch“ an die Wände zubetonierter Gedankengänge zu schreiben. Die politische Kultur im Jahre 2017 braucht keine Betonmischer, sondern genau wie vor 28 Jahren: Mauerspechte, die alles wollen, nur keine Stabilität und kein „Weiter so“.

Das Unwirkliche an der aktuellen Situation ist, dass die etablierten Politiker am eben abgewählten „Weiter so“ als einziger Möglichkeit festhalten, um Demokratie und Zivilisiertheit zu garantieren. Das Scheitern von Jamaika – ein eigentlich beeindruckender Beweis für die Notwendigkeit von Veränderung – wird umgedeutet zu einem Beleg dafür, dass Veränderung nicht möglich ist. Und so taucht nun die bereits beerdigte Große Koalition als Rettung in der Not wieder auf, nur dieses Mal nicht als Schreckgespenst, sondern als guter Geist aus guten alten Zeiten, in denen man zwar auch nicht wusste, wo es lang gehen soll, sich dessen aber zumindest sicher war.

Demokratie und Freiheit brauchen Instabilität

Wir sollten dieses politische Einbetonieren der Gesellschaft verhindern. Die Versteinmeierung der Politik als Fortschreibung der Merkel‘schen Alternativlosigkeit führt dazu, dass die Vorstellung, die die Menschen von den Möglichkeiten und den eigentlichen Zielsetzungen der Demokratie haben, immer technischer, enger und somit auch unattraktiver wird. Entgegen der elitären Lesart ist es nämlich nicht die Hauptaufgabe der Demokratie, stabile Regierungen zu erzeugen. Demokratie ist auch weitaus mehr als das Wählengehen. Ihr oberstes Ziel ist es, einen öffentlichen Wettstreit um Ideen und Konzepte zu ermöglichen, sie soll den Geist anregen und gleichzeitig alte Geister vertreiben. Sie soll in der Gesellschaft zu einem Klima der Offenheit, der Dynamik und der Freiheit beitragen, das Raum bietet für Innovation, für neues Denken und für Fortschritt.

An all diesem fehlt es der deutschen Demokratie. Die Angst vor Kontroversen, vor Menschen, deren Überzeugungen und vor der Schwäche der eigenen Argumente entkernt die Demokratie: Was übrig bleibt, ist deren leere Hülle und die Gewissheit, dass hieraus nichts Neues entstehen kann. Wahlen werden so zu einem therapeutischen Ritual. Wenn das Problem also darin besteht, dass alles so festgefahren und unbeweglich erscheint, dann hilft nur eines: Instabilität. Keine eindeutigen festgefrorenen Mehrheiten, sondern die Notwendigkeit, Gräben, Mauern und eigene Schatten zu überspringen und miteinander zu reden und sich überraschen zu lassen, was im Einzelnen dabei herauskommt.

„Irgendetwas ist anders. Alles, was anders ist, ist gut“, so kommentiert Phil Conners im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ das Ende seines Martyriums, das ihn solange immer denselben Tag erleben ließ, bis er seinen eigenen Zynismus und seinen Menschenhass überwunden hatte. Damit ist nicht gemeint, dass tatsächlich alles gut ist, was anders ist. Aber Veränderung schafft Möglichkeiten. Alles, was Deutschland aus dem zum Dogma erstarrten Streben nach stabilen Regierungen und möglichst weichgespülten politischen Auseinandersetzungen befreit, kann dabei helfen, die tatsächliche Bedeutung von Demokratie wiederzuentdecken. Wir brauchen das „Gespenst der Instabilität“ nicht fürchten. Es ist in Wirklichkeit der Geist der Freiheit.

Dieser Artikel ist am 26. November 2017 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.