Brexit – It’s politics, stupid!


Die öffentliche Sicht auf den Brexit ist geprägt von Pessimismus, Zynismus und einer tiefsitzenden Angst vor Veränderungen. Darüber geht verloren, dass das Mehrheitsvotum der Briten allen Europäern neue demokratische Perspektiven eröffnet – auch denen, die ihn ablehnen.

In einem halben Jahr soll es aller Voraussicht nach soweit sein: Am 29. März 2019 wird das Vereinigte Königreich als erstes Land überhaupt aus der Europäische Union austreten. Bei dem Referendum am 23. Juni 2016 stimmten 17,4 Millionen Briten für den Austritt aus der EU, 16,1 Millionen waren dagegen. Betrachtet man die Debatten über die Brexit-Entscheidung, so gewinnt man den Eindruck, als hätten sich die Briten an einem warmen Sommertag im Juni 2016 im Pub von rechtsnationalistischen Kampftrinkern abfüllen lassen, um dann anstatt ins Nachbarlokal ins Wahllokal abzubiegen, um einfach mal dem eigenen Frust freien Lauf zu lassen. Ein Ausrutscher unwissender und fehlgeleiteter „angry Britons“, die mit der Aussicht darauf, endlich die Zugbrücken zum Kontinent wieder hochziehen zu können, die Zukunft ihrer eigenen Kinder in den Abguss spülten.

Starkes demokratisches Votum oder dumpfer Protest?

In diesem Sinne urteilten nicht nur große Teile der kontinentalen Öffentlichkeit samt ihrer Eliten über den Ausgang des Referendums, sondern auch die Mehrheit der britischen politischen Klasse. Tatsächlich hatte keine der beiden großen Parteien den Brexit befürwortet. Vielmehr hatte der konservative Premierminister David Cameron das Referendum angestoßen in der Hoffnung, durch ein klares Votum für den Verbleib in der EU das Thema endlich ad acta legen zu können. Das komplette britische Establishment hatte massiv für die EU-Mitgliedschaft geworben – bis auf die schon zu diesem Zeitpunkt parlamentarisch kaum relevante United Kingdom Independence Party (UKIP) und noch marginalere Gruppen. Trotzdem entschieden sich die Briten anders, und dies ziemlich eindrucksvoll.

Tatsächlich haben noch nie zuvor in der langen Demokratiegeschichte des Vereinten Königreichs so viele Bürger ein demokratisches Votum getragen. Die Nachricht kam einer Sensation gleich, oder einem Schock, je nach Standpunkt. Schnell begann man, das Ergebnis zu sezieren: Es seien vor allem die Alten, eher Ungebildeten, Unkultivierten sowie die Landbewohner gewesen, die für den Brexit votiert hätten mit dem Ziel, den „Großkopferten“, Studierten und arroganten Hauptstädtern so richtig eins auszuwischen. Zudem seien die Folgen des Brexit überhaupt nicht richtig diskutiert worden, was die Menschen dazu verleitet habe, eine solche Option überhaupt in Betracht zu ziehen. Letztlich sei die Abstimmung zu einer Abrechnung mit „denen da oben“ mutiert, in der das eigentliche Europa-Thema von Fremdenhass und purer Protesthaltung überlagert worden sei.

Brexit mit Ansteckungsgefahr

Bis heute wird nach alternativen Erklärungen gesucht für das Votum der Briten. Gepaart werden diese Anstrengungen mit immer wilder ins Kraut schießenden Schreckensmeldungen, was nach dem Brexit alles passieren werde. Immer wieder kommt auch die Frage hoch, ob man den EU-Ausstieg nicht etwas abmildern oder relativieren könne. In Westeuropa wird der Brexit bis heute vielfach als Ausdruck britischer Verschrobenheit, royaler Arroganz und als Versuch gewertet, die guten alten Zeiten imperialer Größe zurückzuholen. Eine ernsthafte öffentliche Diskussion darüber, inwiefern ein Ausstieg aus der EU für eine Gesellschaft eventuell auch Vorteile bringen könnte, sucht man vergebens.

Verwunderlich ist das nicht: Tatsächlich treibt die Angst vor etwaigen Ausstiegs-Nachahmern die westeuropäischen Eliten um, und vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Konflikte mit den Regierungen Ungarns und Polens, aber auch Italiens und Griechenlands ist das durchaus nachvollziehbar. Hinzu kommen die Wahlerfolge populistischer Parteien in Frankreich, Deutschland, Österreich, Italien, in den Niederlanden, Finnland sowie jüngst in Schweden, die alle, wenn auch nicht offen EU-kritisch, so doch zumindest stark auf die eigene nationale Souveränität bedacht sind. Dass diese Staaten und Strömungen in einem reibungslosen und gesitteten Brexit-Prozess eine realisierbare Option für das eigene politische Handeln sehen könnten, ist nicht völlig aus der Luft gegriffen.

Elite an der kurzen Leine des Wählers

Die kontinental- und insbesondere westeuropäische Sicht auf den Brexit ist geprägt von Pessimismus, Zynismus gegenüber den Wählern und einer tiefsitzenden Angst vor Veränderungen. Dieses Sentiment existierte zwar lange vor dem Brexit, wird aber durch solche disruptiven Ereignisse bestärkt und führt zu einer immer mehr von Angst geprägten Wahrnehmung der Wirklichkeit. So bleibt in der Bewertung des Brexit häufig unbeachtet, dass er entgegen der gängigen Interpretation der europäischen Wahlergebnisse der vergangenen Monate und Jahre populistischen Protestparteien eben gerade keine Stimmenzuwächse bescherte. Im Gegenteil: Die jüngste britische Unterhauswahl vom Juni 2017 war die einzige Wahl in Europa in den vergangenen Jahren, in der populistische oder rechtsextreme Parteien keine Rolle spielten. Die bereits genannte britische Unabhängigkeitspartei UKIP ist mittlerweile endgültig in der Bedeutungslosigkeit verschwunden, im britischen Parlament ist sie gar nicht mehr vertreten.

Über das Brexit-Votum hat die britische Bevölkerung vielmehr das politische Establishment in London insgesamt in die Pflicht und unter demokratische Kontrolle genommen. Diesen Druck spüren sowohl die konservative Regierung Theresa May als auch die Labour-Opposition unter Jeremy Corbyn. Dies ist die eigentliche politische Bedeutung des Brexit-Votums: Es geht um die Frage demokratischer Souveränität. Die Briten haben mehrheitlich entschieden, sich künftig nicht mehr vom kaum kontrollierbaren EU-Apparat in Brüssel regieren zu lassen. Sie wollten stattdessen die sie selbst betreffenden politischen Entscheidungsbefugnisse wieder in London ansiedeln – nicht etwa aus Liebe zum eigenen Establishment, sondern, weil es dadurch besser zur Verantwortung gezogen werden kann. Nicht zuletzt wird der britischen Politik durch den EU-Austritt die Möglichkeit genommen, sich hinter Brüssel zu verstecken.

„Softe“ Selbstbestimmung ist keine

In dieser sehr grundsätzlichen demokratischen Frage plötzlich die Möglichkeit eines „soften Brexit“ auf die Tagesordnung zu heben, mutet zumindest seltsam an. Erklärt wird diese Option mit dem Streben danach, die ökonomischen Konsequenzen des EU-Austritts für die Bevölkerung abzumildern, insbesondere dann, wenn es nicht gelingen sollte, mit der EU einen geregelten Austritt zu vereinbaren. „Deal or no deal?“ ist die Frage der Stunde. Nachdem der Brexit für seine Gegner nun zur unerwünschten Wirklichkeit geworden ist, wird nun der ungeregelte Austritt als neues Schreckgespenst beschworen. Und interessanterweise zumeist von jenen politischen Kräften, die schon immer gegen den Brexit waren und es bis heute sind.

Die demokratische Dimension des Brexit wird durch die Debatte über einen harten oder weichen Austritt in den Hintergrund gedrängt. Davon, dass es eine „weiche“ Variante gäbe, war im Referendum nicht die Rede. Diese Idee ist Ausdruck der politischen Ängstlichkeit und der Widerwilligkeit, sich dem Mehrheitsvotum zu fügen. Stattdessen hofft man, mit einer angstgetriebenen Debatte über etwaige wirtschaftliche Einschnitte den Briten endgültig die Lust an der politischen Selbstbestimmung zu nehmen. Dass man so die tatsächlich jahrzehntealten Ursachen der ökonomischen Schwäche Großbritanniens aus der Auseinandersetzung herauslösen kann, kommt dem Establishment ebenfalls sehr gelegen.

Brexit mit demokratischer Signalwirkung

Wenn man sich aber nur auf Wirtschaftsfragen fokussiert, verkannt man: Im offiziellen Regierungs-Flugblatt, das vor dem Referendum allen britischen Haushalten zuging, war deutlich darauf hingewiesen worden, dass ein Austritt „Jahre der Unsicherheit und potenzielle ökonomische Verwerfungen“ zur Folge haben und „Arbeitsplätze kosten“ könne. Und dennoch stimmten die Briten mehrheitlich für den Austritt. Offensichtlich ging es ihnen nicht um ökonomische Fragen, sondern um politische. Das macht die Stärke des Votums aus: Während in der Vergangenheit den europäischen Wählern immer wieder vorgeworfen wurde, sich mit Wahlgeschenken oder Sicherheitsversprechen „kaufen“ zu lassen, ist genau dies beim britischen Referendum krachend gescheitert. Der alte Leitsatz „It is the economy, stupid“, demzufolge letztlich immer wirtschaftliche Prosperität und Sicherheit die Entscheidungen der bequemen Bürger prägt, wurde am 23. Juni 2016 auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt.

Dieser Aspekt des britischen Referendums sollte den Europäern Mut machen, insbesondere jenen, die seit Jahren über die Alternativlosigkeit in der Politik klagten. Tatsächlich ist es so, dass am Ende der politischen Eiszeit in Europa auch politische Haltungen und Strömungen auftauen, die nicht wirklich zukunftsweisend oder problemlösend wirken. Der Brexit ist hingegen etwas anderes. Es ist vorstellbar, dass die zögerliche und widerwillige Elite Großbritanniens ihn als Projekt gegen die Wand fährt. Das ändert aber nichts an seiner demokratischen Signalwirkung: Die britischen Wähler haben ein politisches Fenster geöffnet, von dem ein Großteil der Europäer vergessen hatte, dass es überhaupt existiert. Dafür sollten wir ihnen dankbar sein. Von ihrer Dickköpfigkeit, ihrer Robustheit und ihrer Risikobereitschaft profitieren wir schon jetzt weitaus mehr als von den arroganten Angstmachern in Berlin, Brüssel oder Paris.

Dieser Artikel ist am 16. September 2018 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.