Die altgediente und fast flehende Aufforderung, die Leute mögen doch bitte wählen gehen, dürfte nun endgültig in der Mottenkiste verschwinden. Das ist gut so, denn auch wenn man den Bürgern über Jahre hinweg das Gegenteil einzutrichtern versucht hat: Urnengänge haben mit Demokratie ungefähr so viel zu tun wie ein schüchterner Wangenkuss mit Sex. Bestenfalls ist er der Hauch eines Vorgeschmacks, andernfalls nur ein freundliches, aber bestimmtes „Nein danke“.
Visionslosigkeit der Mainstream-Politiker
Wir hören nun allenthalben, die etablierten Parteien seien von der „Walze AfD“ überrollt worden. Tatsächlich wird die Politik des Mainstreams von ihrer eigenen Visionslosigkeit erdrückt. Der Stil der Deutschalternativen erinnert dabei eher an den der frühen Grünalternativen: Sie nähren sich aus der verbreiteten Etabliertenverdrossenheit, beschwören Angstszenarien und preisen einfache Lösungen.
Wer meint, Zweifelnde und Verdrossene mit Beschimpfungen zurück ins gemeinsame Boot zu locken, hat sein blaues Wunder mehr als verdient. Die Parteien machen sich mit ihrer Ignoranz zum Außenbordmotor der politischen Nussschale namens AfD. Der Treibstoff der Verdrossenen ist die Dämonisierung durch die Anderen.
AfD verspricht Nähe und Halt
Die AfD ist ein Flüchtlingslager für politisch Vertriebene. Ihren Zulauf verdankt sie den stärker werdenden Fliehkräften einer immer schneller um sich selbst kreisenden politischen Klasse. Im Gegensatz zu den Etablierten versprechen die AfD-Oberen Nähe und Halt sowie Verständnis für die Sehnsucht nach Übersichtlichkeit.
Gegen diesen Aufstand der Frustrierten helfen weder Ausgrenzung noch Anbiederung, sondern nur offene und kontroverse Auseinandersetzung. Wenn zu einfache Lösungen für Menschen attraktiv erscheinen, dann wird es höchste Zeit, ihnen mit mehr Freiheit, mehr Offenheit und mehr Vielfalt zu begegnen. Allein: Von den Etablierten ist dies nicht zu erwarten.
Anstatt eine neue Runde der Wählerbeschimpfung einzuläuten, sollten wir eine Lanze für die Demokratie und die Meinungs- sowie Entscheidungsfreiheit der Bürger brechen. Denn das Schöne an Menschen ist: Sie verhalten sich in der Regel so, wie man sie behandelt. Sobald sie ernst genommen werden und man ihnen die Freiheit und die Wahl lässt, verlieren Enge und Konformität an Anziehungskraft. Man muss ihnen nur vertrauen.
Dieser Artikel ist am 06.9.2016 bei Cicero Online und danach in der BFT Bürgerzeitung erschienen.