Kunststoffe sind zutiefst menschlich

Ente, Spielzeug, Wasser, Reflexion

Die Dämonisierung von Plastik hilft nicht dabei, die Herausforderungen im Umgang mit Kunststoffen anzugehen. Stattdessen droht das menschliche Fortschrittsstreben in der Plastikmülldebatte zu ersticken.

Zwei Atome unterhalten sich. Das eine fragt: „Was soll ich später mal werden?“ Da antwortet das andere: „Das ist egal, aber wenn du populär sein willst, dann werde kein Kunststoff.“ In Zukunft haben Atome weniger Auswahl: Da tritt eine EU-Richtlinie zur Verwendung von Einwegkunststoffen in Kraft. Zudem haben sich 170 Länder weltweit verpflichtet, die Verwendung dieser Stoffe bis 2030 deutlich zu reduzieren. Die Vermüllung des Planeten und insbesondere der Meere mit Plastik gilt als eine der zentralen menschgemachten Naturkatastrophen unserer Zeit.

Das Thema trifft einen Nerv. Jeder Mensch hat tagtäglich mit Plastik zu tun, und es ist nur schwer aus unserem Leben wegzudenken. Außerdem spricht es unsere Emotionen und unser ästhetisches Empfinden an: Niemand erfreut sich am Anblick von in Plastikplane verhedderten Tierkadavern oder badet gerne in mit Plastik übersäten Gewässern. Doch die Wucht des Themas reicht tiefer, im Wortsinn auf die mikroskopische Ebene: Als Mikroplastik hat zerriebener Kunststoff das Zeug zur unsichtbaren, allgegenwärtigen und unkontrollierbaren Gefahr, der wir machtlos gegenüberstehen.

Pauschale Plastik-Ächtung: Rückabwicklung des modernen Lebens
So betrachtet, steht Plastik sinnbildlich für die Moderne mit all ihren Widersprüchen: sie ist lokal und zugleich global, überwältigend groß und zugleich mikroskopisch klein, ästhetisch widerwärtig und zugleich unsichtbar, notwendig und zugleich giftig und tödlich. Der Verzicht auf Kunststoffe gilt vielen als alternativlos, zugleich aber auch als ein Hebel, um grundlegende Gesellschaftsveränderungen herbeizuführen. Diese emotionale und zugespitzte Diskussion ist nicht darauf ausgerichtet, technische Lösungen zu entwickeln. Gerade dies wird mit kategorischen Verbotsforderungen unterbunden.

Was glauben Sie, wie viele Unternehmen sich nach einem Plastikverbot mit der Erforschung und Entwicklung umweltschonender Plastikarten beschäftigen und hier Geld investieren werden? Sie dürfte ähnlich sein wie die von Unternehmen, die in Deutschland nach dem Atomausstieg oder nach dem Ausstieg aus der grünen Gentechnik dort forschend aktiv geblieben sind. Das Plastikproblem ist in der öffentlichen Wahrnehmung mehr als ein technisches und somit lösbares Abfall- und Entsorgungsproblem: Es bedient emotionale und auch philosophische Ebenen, auf denen es gerade nicht um stoffliche Eigenschaften geht, sondern um den Symbolgehalt des „Künstlichen“ als toxischer Gegenpol des „Natürlichen“.

Ohne Kunststoff könnte die Menschheit einpacken
Nimmt man die öffentliche Diskussion für bare Münze, so liegt der einzige Nutzen von Plastik darin, auf rücksichtslose Art und Weise den Planeten zugrunde zu richten. Es erscheint als nutzloser Gift- und Abfallstoff; seine zentralen Materialeigenschaften, nämlich Härte und Bruchfestigkeit bei gleichzeitiger Elastizität, Formbarkeit, Wärmebeständigkeit und Langlebigkeit werden als die entscheidenden zerstörerischen Kernmerkmale uminterpretiert. Diese sehr getrübte Perspektive blendet vollständig aus, wozu Kunststoffe eigentlich entwickelt werden. Dies hat zur Folge, dass viele Menschen nur eine ungenaue Vorstellung vom tatsächlichen Nutzen haben – und interessanterweise gilt: Je aktiver Menschen sich gegen Plastik starkmachen, desto häufiger begegnet man dieser Ahnungslosigkeit.

Die Debatte fokussiert sich zumeist auf die achtlos weggeworfene Plastiktüte, die Plastikflasche sowie auf den Plastikstrohhalm und das Wattestäbchen. Medien- und politikstrategisch gesehen macht diese Konzentration Sinn, denn hier ist das Problem für jeden greifbar und bei genug Eigenengagement und entsprechenden staatlichen Verbots- bzw. Verteuerungsmaßnahmen auch lösbar. Tatsächlich aber machen diese Produkte lediglich einen Bruchteil aller Kunststoffe aus. Es wäre auch weitaus weniger populär, alle elektronischen Geräte, medizinische Apparaturen, Kunststoffprothesen, Kontaktlinsen, Hygieneartikel, Windeln, Stromkabelisolierungen, Klebstoffe und die in Deutschland so beliebte Schaumstoffisolierung im klimagerechten Hausbau zu verbieten. Da ist es schlichtweg bequemer, sich auf Produkte einzuschießen, die ohnehin in der Kritik stehen, wie etwa überflüssige Verpackungsmaterialien, Autokarosserien in Leichtbauweise (spritsparend!) oder Autoreifen.

Verbote und Hysterie verhindern Wissen
Die so verengte Diskussion diffamiert die mehr als 200 verschiedenen Kunststoffarten als zerstörerisch und verhindert eine realistische Problemanalyse und die Entwicklung von Lösungen. Seit der Entwicklung der ersten modernen Kunststoffe in der Mitte des letzten Jahrhunderts sind mehr als 8 Mrd. Tonnen produziert worden. Jährlich kommen etwa 380 Mio. Tonnen hinzu, Tendenz steigend. Ein Großteil ist für die Langzeitverwendung entwickelt und verbleibt auf viele Jahre in seinem für ihn vorgesehenen Nutzungskreislauf. Die Plastiktüte macht lediglich zwei Prozent des weltweiten Plastikmülls aus. Das für die Menschen im Alltagsleben sichtbare „Plastikproblem“ steht lediglich mit einem Teil der im Umlauf befindlichen Kunststoffe in Beziehung.

Im letzten Jahr hat es auch das Thema Mikroplastik in die Schlagzeilen geschafft. Dass diese zerriebenen Überbleibsel großer Kunststoffteilchen überall zu finden ist, sollte nicht verwundern. Dennoch sind die Wissenschaftler zurückhaltend, was negative Folgen oder gar toxische Konsequenzen anbelangt. So bestätigt eine Studie des Fraunhofer-Instituts für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik UMSICHT aus dem Jahr 2018, dass die Toxizität von Polymeren „eher gering“ ist und sich auch über die physikalischen und chemischen Auswirkungen von Mikroplastik „keine pauschalen Aussagen“ treffen lassen. Selbst die Befürchtungen ob der vermeintlich steigenden Belastung durch Mikroplastik sind umstritten: Eine Untersuchung tiefgefrorener Ostseefische ergab, dass 2015 gefangene Fische nicht mehr Mikroplastik enthielten als 1987 gefangene. Überraschend auch: 93 Prozent der in den Fischen gefundenen Kunststofffasern stammten vermutlich aus Fleecejacken und ähnlichen Kleidungsstücken. Also auch hinsichtlich der Quellen des Mikroplastik sind wir noch weit davon entfernt, eindeutige Aussagen machen zu können.

Das Problem ist nicht Plastik, sondern Unterentwicklung
Jährlich werden etwa 8 Mio. Tonnen Kunststoffe in die Weltmeere eingetragen, was eine erhebliche Belastung darstellt. Gemessen daran, dass von den jährlich produzierten 380 Mio. Tonnen bislang etwa gut drei Viertel deponiert und nur knapp ein Viertel verbrannt wird, sind 8 Tonnen aus Managementsicht aber eine Größenordnung, die sich erheblich und auch zeitnah reduzieren lassen sollte. Hier gibt es also Optimierungsbedarf, aber auch Grund für Optimismus: Bezeichnenderweise sind die reichen Länder dieser Welt nur zu einem kleinen Teil direkt für die Vermüllung der Weltmeere mit Plastik verantwortlich. Nicht, weil sie weniger Plastik verwenden würden – tatsächlich ist der Pro-Kopf-Verbrauch hier sogar am höchsten –, sondern weil sie über bessere und flächendeckende Managementsysteme verfügen. Weit über 80 Prozent des Plastikeintrags über Flüsse in die Weltmeere stammen aus Asien und zu weniger als einem Prozent aus Europa.

Eine scheuklappenfreie Diskussion über Abfallentsorgung in Deutschland wäre durchaus hilfreich. Obwohl den Deutschen seit Jahren beharrlich antrainiert, hat die häusliche Mülltrennung und -vermeidung auf den Zustand der Weltmeere so gut wie keinen Effekt. Um den versehentlichen Eintrag von Plastik in die Natur zu reduzieren, könnte es stattdessen ratsam sein, den Hausmüll ungetrennt und rückstandslos zu verbrennen. Dies würde Ressourcen freisetzen, die bisher für die Moralin getränkte Umweltbildung von Endverbrauchern verwendet werden. Zum Schutz der Natur sollten wir andere Länder bei der wirtschaftlichen Entwicklung sowie beim Aufbau effektiver Entsorgungsstrukturen und -technologien unterstützen. Plastisch formuliert: Das Problem ist nicht zu viel Moderne, sondern Unterentwicklung, also zu wenig Moderne.

Kunststoffe sind zutiefst menschlich
Verbesserungsbedarf gibt es auch bei der Entwicklung neuer Kunststoffe mit besseren Eigenschaften und mit weniger schädlichen Konsequenzen. Und es fehlt hier nicht an innovativen Forschungsansätzen und Produktentwicklungen: Einige Unternehmen forschen an der Herstellung von Treibstoffen aus Kunststoff, andere entwickeln Kunststoffe, die besser und schneller von Mikroben und Kleinstlebewesen zersetzt werden können. Wieder andere experimentieren an der sinnvollen Verkürzung der Langlebigkeit von Kunststoffen bei gleichzeitiger Beibehaltung der Stabilität. Vor ein paar Jahren habe ich ökologisch abbaubare Mülltüten ausprobiert, musste aber feststellen, dass es wenig Sinn macht, wenn die Tüte sich genauso schnell zersetzt wie der darin befindlichen Müll.

Hier gibt es also noch viel Luft nach oben. Aber ich habe keinen Zweifel daran, dass die Menschheit in der Lage ist, diese technischen Probleme zu lösen – vorausgesetzt, sie begreift sie als technische Probleme und nicht als schicksalshafte Bestrafungen, die es demütig zu erleiden gilt. Wir sollten den Müll aufräumen, uns aber nicht mit vorschnellen und übertriebenen Verbotsdebatten aus der Forschung herauskatapultieren. Denn Fakt ist: Eine Welt ohne Kunststoffe ist weniger menschlich. Alles Künstliche ist menschgemacht. Diese Dinge weiter zu verbessern und neue zu entwickeln, hilft nicht nur den Menschen, sondern auch der Natur.

Dieser Artikel ist in leicht veränderter Form unter dem Titel „Kunststoffe können der Umwelt helfen“ am 28.10.2019  in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.
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