Das Beispiel der Kleinstadt Hardheim zeigt, dass die eigentlich gute Idee, Flüchtlingen die sie umgebende und ihnen fremde Kultur näher zu bringen, durch Unbeholfenheit und Unwissenheit leicht ins Gegenteil umschlagen kann.
Die im fränkischen Odenwald gelegenen Gemeinde Hardheim mit 4.700 Einwohnern beherbergt seit einiger Zeit rund 1.000 Flüchtlinge. Für die Kleinstadt ist dies zweifellos eine immense organisatorische Herausforderung. Im Großen und Ganzen gibt es aber, wie sich Bürgermeister Volker Rohm am 30. September in der RTL-Sendung „Stern TV“ ausdrückte, keine schweren Delikte, sondern „eher viele kleine“. Dennoch trügen diese verständlicherweise zur Verärgerung der Bürger bei. „Wenn unsere Werte aufgeweicht werden, muss ich dem als Bürgermeister entgegen wirken“, sagte Rohm in einem gestern auf der Internetseite von n-tv veröffentlichten Interview.
Um größeren Konflikten vorzubeugen, hatte die Hardheimer Gemeindeverwaltung daher zusammen mit dem Betreiber der Erstaufnahmestelle einen Leitfaden für Flüchtlinge erstellt. Dieser war in mehreren Sprachen verfasst und soll zu einer besseren und schnelleren Integration beitragen. Nach Angaben der „Fränkischen Nachrichten“ wurden ganz konkrete Probleme angesprochen: Es ging konkret um „das Verhalten auf dem Schlossplatz, wo es für eine halbe Stunde kostenlosen W-LAN-Anschluss gibt; die Müllentsorgung; die Nutzung öffentlicher Toiletten; das Verhältnis zu Privateigentum der Einheimischen; das Ansprechen von Passanten auf der Straße und das Betteln“.
Doch ganz so unmissverständlich, wie es den Anschein hat, waren die unter dem Titel „Hilfestellung und Leitfaden für Flüchtlinge“ zusammengetragenen Benimmregeln leider nicht. Jedenfalls schlug das Papier nach Bekanntwerden hohe mediale Wellen. Tatsächlich ist der dort angeschlagene Ton befremdlich – wenngleich wohl eher aus Unbeholfenheit denn aus bösem Vorsatz: Bereits die Anrede „Liebe fremde Frau, lieber fremder Mann“ signalisierte Distanz und betont die Fremdheit, die man doch eigentlich überwinden wollte. Die Anrede setzte den Ton für die weiteren Inhalte: Es wirkte so, als seien die folgenden Regeln speziell für fremde Damen und Herren gültig, was ja nicht stimmt, denn sie gelten für alle. Wahrscheinlich wäre überhaupt das Betonen des Gemeinsamen der richtige Ansatzpunkt für den Aufbau einer tragfähigen Hardheimer Umgangskultur gewesen. Mit Aussagen wie „Deutschland ist ein sauberes Land, und das soll es auch bleiben!“ wurde genau dies leider nicht kommuniziert.
Schwierig war aber auch die grundsätzliche Herangehensweise an das Papier: Syrische Flüchtlinge kommen nicht von einem anderen Stern. Jedoch müssten sie sich so vorkommen, wenn ihnen zur Erklärung deutscher Gepflogenheiten mitgeteilt wird, dass man hierzulande die Ware im Supermarkt bezahlt, „bevor man sie öffnet“ oder dass in Deutschland „Wasser zum Kochen, Waschen, Putzen [und] für die Toilettenspülungen benutzt“ werde. Stellen Sie sich vor, man würde Sie beim nächsten Auslandsaufenthalt darauf hinweisen, dass „hierzulande“ Stehlen verboten und Wasser zum Waschen da ist. Sie würden sich behandelt fühlen, als wären sie ein unzivilisierter Barbar.
Man muss den Durchschnitts-Syrern keine grundlegende Zivilisations-Nachhilfe erteilen, denn auch in Syrien gab es Eigentum, Supermärkte, private Grundstücke, und selbst es wurde mit Wasser gekocht, gewaschen und geputzt, es gab sogar dort fließendes Wasser! Wer meint, dem normalen syrischen Flüchtling erklären zu müssen, wie man sich zivilisiert zu betragen habe, der ist selbst gefangen in Vorurteilen, die ein solches eigentlich gut gemeintes Projekt zum Scheitern bringen können.
Regeln des zivilen Zusammenlebens haben allgemein gültig zu sein, sie gelten also auch für Flüchtlinge. Flüchtlinge, die sich nicht an solche Regeln halten, tun dies aber nicht, weil ihr Heimatland im Vergleich zu Deutschland einen unüberbrückbaren Zivilisationsrückstand im Alltagsleben aufzuweisen hat. Diese Menschen mögen in einigen Lebensbereichen andere Regeln befolgen, auch solche, die wir als vormodern und rückschrittlich ansehen. Diese Leute aber zu behandeln, als seien sie zu einem geregelten Zusammenleben nicht in der Lage, ist herablassend.
Ihre Beweggründe, sich nicht an Regeln des sozialen Miteinanders zu halten, sind genauso inakzeptabel wie die, die man bei hier aufgewachsenen Jugendlichen und Erwachsenen findet – und sie sind ihnen zumeist auch inhaltlich recht ähnlich: zerrüttete und zerstörte Familien, mangelnde Schulbildung und Erziehung, Armut und Verwahrlosung, Traumatisierung, Störung des sozialen Umfeldes, Abgrenzungswillen gegenüber der abgelehnten Durchschnittsgesellschaft. Dies sind Probleme, die unsere Gesellschaft seit Jahrzehnten als ihre eigenen kennt. Flüchtlinge bedürfen hier keiner wesentlich anderen Behandlung, höchstens einer intensiveren individuellen Betreuung wegen der Kriegs- und Fluchterlebnisse. Mit arroganten und pauschalen Belehrungslisten dürfte hier wenig erreicht werden können, und zusätzlich bringt man noch diejenigen gegen sich auf, die man eigentlich gar nicht gemeint hatte.
Die Hardheimer Regelliste suggerierte zudem, die aufgelisteten Probleme seien allesamt Flüchtlingsprobleme, mithin auf die Herkunft der Menschen zurückzuführen: Dabei ist der Großteil der dort formulierten Regeln auch bei Deutschen alles andere als in Fleisch und Blut übergegangen: Das mangelhafte Nutzen von Toilettenspülungen und das unsaubere Hinterlassen von öffentlichen WCs ist kein „syrisches Problem“, was jeder weiß, der einmal auf einer Kerb, in einem Fußballstadion oder auf einen Betriebsfest in Nöte kam. Dasselbe gilt auch für das Verhalten in Parks und an Hecken und Büschen.
Die als generelle deutsche Sitte formulierte „Nachtruhe ab 22 Uhr“ ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, und sie hat auch damals schon nicht funktioniert. Über solche angeblich grundsätzlich und deutschlandweit geltenden „Regeln“ kann jeder, der aus einer Stadt kommt, die nur unwesentlich größer ist als Hardheim, nur herzhaft lachen – von den Regeln für Fahrradfahrer, die die Radwege zu benutzen und nicht mit den Füßen zu bremsen hätten, für das Verhalten von Fußgängern und von den Anstandsregeln für das Ansprechen junger Mädchen ganz zu schweigen.
Ja, die Integration einer großen Zahl von Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund ist eine Herausforderung – doch nicht auf dem Niveau, das uns die Hardheimer Integrationsregeln vermitteln wollte. Diese vermischen zutiefst konservative Wunschvorstellungen einer ländlichen Idylle, die es so nie gegeben hat, mit den Realitäten einer modernen Welt – und verheddern sich heillos. Da hilft es auch nicht, wenn am Ende aufführt wird, man habe die Flüchtlinge ja schließlich „bedingungslos aufgenommen“ – im Gegenteil: Dies klingt wie eine indirekte Drohung.
Und dies ist das Übelste an der ganzen Auflistung: In letzter Konsequenz wird den Bürgern signalisiert, sie mögen doch bitte, anstatt den Flüchtlingen angstfrei und auf Augenhöhe zu begegnen, um Vertrauen aufzubauen, von nun an kontrollieren, ob die „fremden Frauen und Männer“ sich auch wirklich an alle Regeln halten. Interessanterweise räumte Rohm im n-tv-Interview auch ein, dass der Leitfaden „vor allem für unsere Bürger gedacht“ war. Dass gerade diese im Internet veröffentlichte deutsche Fassung des Textes öffentlichen Wirbel auslöste, hatte Rohm überrascht. Es hätte ihn nicht überraschen sollen.
Was diese Posse um den gescheiterten Hardheimer Versuch, Integration per Regelblatt zu vollziehen, aber vor allem offenbart, ist die politische Hilflosigkeit vor Ort, die zu der organisatorischen Überforderung noch hinzukommt. Diese hat nicht Bürgermeister Rohm zu verantworten, denn sie ist ein Symbol für die oberflächliche und über die Menschen hinweggehende Art und Weise, mit der die „große Politik“ sich des Migrationsthemas annimmt. Es reicht eben nicht aus, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel in Fernsehtalkshows gute Miene zum schwierigen Spiel macht, allen mütterlich auf die Schulter klopft und ihnen vergewissert, man werde „das“ schon schaffen.
Integration ist ein politischer Prozess, der weit über das nebeneinander her leben von unterschiedlichen Menschengruppen hinaus geht und der auch nicht mit Durchhalteparolen bewerkstelligt werden kann. Insbesondere angesichts der Tatsache, dass aus anderen Ländern stammende Menschen in Deutschland seit Jahrzehnten und noch immer vielfach als „Gastarbeiter“ angesehen werden und es eine tiefsitzende Kultur der Abschottung gibt, muss offen und ohne Vorbehalte mit den Menschen diskutiert werden, ohne dass Bedenkenträger sofort in die rechtsradikale und Integrationsbefürworter sofort in die naive Gutmenschenecke gestellt werden. Ein solcher Diskurs setzt aber voraus, dass die Politik die Menschen ernst nimmt – egal, woher sie kommen. Vielleicht gelingt das in Hardheim in einem zweiten Versuch.
Dieser Artikel ist am 8.10.2015 in der BFT- Bürgerzeitung und am 10.10.2015 unter dem Titel „Integration: Und jetzt mal zur Praxis“ bei der Achse des Guten erschienen.