23.03.2020 – Die Welt wird nicht wieder so werden, wie sie vor dem Ausbruch der Corona-Krise war. Ob sie durch weniger Freiheiten und knallhartes staatliches Durchgreifen oder dadurch geprägt sein wird, dass sich die Menschen auf das besinnen und für das einsetzen, was ihnen wichtig ist – darüber gehen die Ansichten auseinander. Und genau das ist auch gut so. Denn die Zukunft steht nicht fest, sie entsteht in unseren Köpfen.
Am späten Mittwochabend bin ich sehr lang und auch recht ziellos durch mein Viertel gelaufen. Zum ersten Mal seit Monaten. Erwartungsgemäß habe ich außer ein paar Gassigängern niemanden auf den Straßen gesehen. Es war stiller und dunkler als sonst. Durch die Fenster sah ich die Menschen vor den Bildschirmen sitzen. Und dann kam mir die Frage in den Sinn, wie es sich wohl anfühlen werde, wenn sich all diese Menschen wieder trauen, sich frei zu bewegen. Und sofort begann ich, mich schon jetzt auf die erste Grillparty zu freuen, ich konnte sie fast schon riechen. Zugleich zog ich innerlich den Freudentanz vor, den ich sonst erst vollführt hätte, wenn der erste kleine Post-Corona-Auftrag reingekommen wäre. So gut hatte ich mich seit Tagen nicht gefühlt.
Krieg – aber gegen wen?
Das kann alles noch ein Weilchen dauern. Und der Blick in die nähere Zukunft, bzw. in die Gegenwart unserer Nachbarländer verheißt erst einmal nichts Gutes. Frankreich steht unter Hausarrest. Nicht einmal mehr Großfamilien dürfen sich treffen. Der extrem unbeliebte Staatspräsident Emmanuel Macron spricht vom „Krieg gegen das Virus“. Bei vielen Franzosen, seit jeher aufmüpfiger gegen Obrigkeiten als viele Deutsche, kommt dies als Kriegserklärung gegen ihre Freiheitsrechte, gegen ihr Leben und gegen ihre Ehre an.
Die ohnehin große Skepsis wächst: Während alle anderen Großveranstaltungen im Lande abgesagt wurden, hielten Macron und sein medizinischer Beraterstab die Kommunalwahlen vom vergangenen Sonntag offensichtlich für ungefährlich. In einer Fernsehansprache äußerte Macron kurz darauf, dass sich die Dinge nach der Krise nicht normalisieren, sondern die Gesellschaft anders sein werde. Man muss kein Anhänger des politischen Sarkasmus sein, um sich die Frage zu stellen, ob Macron vielleicht insgeheim hofft, dass die Menschen während der Ausgangssperre ihre Gelbwesten zu Kinderspielzeug umnähen.
Skepsis tut Not – gerade im Notstand
Skepsis gegenüber Obrigkeiten ist gerade auch in Krisenzeiten geboten. Denn dies sind die Momente, in denen Politik ihren zivilen Rahmen verlässt und – flankiert und unterstützt von einem Heer von „unabhängigen“ und „neutralen“ Fachberatern – neue Regeln setzt bzw. alte außer Kraft setzt oder zumindest temporär einschränkt. Der Historiker Dr. René Schlott vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam zählte in der Radiosendung „Demokratie durch Corona in Gefahr?“ auf WDR5 die derzeit in Deutschland aufgrund der Corona-Krise nicht vollumfänglich geltenden Freiheitsrechte auf: „Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, Reisefreiheit, Gewerbefreiheit sowie Freiheit von Bildung, Lehre und Forschung“.
Zugleich beschrieb Schlott die willfährige Bereitschaft von großen Teilen der Öffentlichkeit, dies nicht nur hinzunehmen, sondern endlich das harte Durchgreifen des Staates zu fordern und den „Diskutierklub“ zu beenden, als alarmierend. Für Schlott hat schon die vorübergehende Beschneidung dieser Rechte drastische Konsequenzen für die Gesellschaft. Die Message laute: Sport, Bildung, Kunst, Kultur und Wissenschaft seien verzichtbar, was hingegen unbedingt erhalten bleiben müsse, sind Konsum und die Börsen. Schlott sieht in der breiten Akzeptanz dieser Maßnahmen eine Sehnsucht nach autoritärer Führung sowie ein „Drehbuch einer rechtspopulistischen Machtübernahme“.
Wir wurden von der Normalität entwöhnt
So bedrückend Schlotts Auflistung von scheinbar „verzichtbaren“ Errungenschaften der modernen Gesellschaft auch ist – die von ihm hergestellte Verknüpfung mit einer sich hier abbildenden „rechtspopulistischen Machtübernahme“ führt ins Leere. Tatsächlich sind es gerade auch der politische Gegenpol sowie die politische Mitte, die in den vergangenen Monaten mit der kontinuierlichen Forderung nach Ausrufung des politischen Notstands (aus welchen Gründen auch immer) erheblich dazu beigetragen haben, die Normalität als verlogenen Schönwetter-Luxus zu diskreditieren. Seit mehreren Jahren schon wird sowohl von rechts als auch von links der Apokalypsenabwehr und der massiven Einschränkung von Freiheitsrechten das Wort geredet. Das mit viel symbolischem Getöse vor Jahresfrist aus der Taufe gehobene „Klimakabinett Merkel“ weicht nunmehr dem „Corona-Kabinett“.
Tatsächlich feststellen lässt sich die große und auch zuweilen unkritische Bereitschaft vieler Menschen, politische und gesellschaftliche Normalität sowie den gesunden Menschenverstand als für die derzeitige Krisenlage ungeeignet anzusehen und auch aufzugeben. Mit den Konturen eines rechtspopulistischen Komplotts haben die nun europaweit ausgerufenen Corona-Notstandslagen jedoch nichts zu tun. Ursache für die Akzeptanz dieser Maßnahmen ist die über Jahre hinweg aus der politischen Mitte heraus systematisch gestreuten Zweifel an der Mündigkeit und Vernünftigkeit der normalen Bürger.
Die Krise als Beginn des Neuanfangs
Zum Glück sind aber in der Krise auch positive Entwicklungen und optimistische Sichtweisen erkennbar. Damit sind nicht nur die nachbarschaftlichen Initiativen gemeint, die nun überall aus dem Boden sprießen. Hier kommt die ansonsten tief unter dem Staub des zynischen Alltags vergrabene urwüchsige Menschlichkeit zum Vorschein. Diese Menschlichkeit muss sich erst noch durchsetzen, und zwar sowohl gegen die hysterisch-ängstlichen Hamsterkäufer als auch gegen all jene, die diese nun in arrogant-abfälliger Weise als das eigentliche Problem geißeln, um sich selbst über sie zu stellen. Doch auch das wird sich in den kommenden Wochen beruhigen. Als positives Aufbruchszeichen wäre es hingegen zu werten, wenn sich Skepsis und auch Kritik an den staatlichen Sondermaßnahmen nicht beruhigen würden.
Widerspruch in Krisenzeiten hält die Gesellschaft am Leben und die Zukunft offen. Wie offen die Zukunft ist, macht der Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx in seinem Text „Die Welt nach Corona“ erlebbar. In seiner Rückwärts-Prognose versetzt er sich in den September 2020 und blickt zurück auf den Ausbruch der Krise und auf das, was wir seitdem erreicht und verändert haben (werden). Horx geht davon aus, dass die aktuelle „Tiefenkrise“ zum Ausgangspunkt einer sich neu formenden Welt wird, in der wir Prioritäten anders setzen und Probleme neu bewerten werden, was wiederum zu neuen Herangehensweisen führen und uns aus Sackgassen, in die wir uns verrannt hatten, herausführen wird.
Mit neuem Wissen der Ungewissheit trotzen
In der Tat haben wir mit Lernen für die Zukunft bereits begonnen. Und dabei geht es nicht nur um den Umgang mit desaströser ökonomischer Ungewissheit, sondern auch um die Neubewertung technischer und humaner Errungenschaften sowie u.a. die grundlegende Fragestellung, wie auf Basis der Erfahrung unterbrochener weltweiter Lieferketten künftig Globalisierung gedacht und robuster organisiert werden sollte. Horx geht davon aus, dass „aus einem massiven Kontrollverlust […] ein regelrechter Rausch des Positiven“ entstehen könne und aus der anfangs noch befürchteten Apokalypse in Wirklichkeit ein Neuanfang werde.
Man muss nicht allen Thesen von Horx zustimmen, um dennoch zu erahnen, wie sehr wir durch eine Perspektivwechsel an “Zukunfts-Intelligenz“ gewinnen können. Dieser Entwicklungsschub wird kommen. Wohin sich die Gesellschaft tatsächlich entwickeln wird, ist offen. Und genau das ist die gute Nachricht. Denn eines kann mit relativer Sicherheit gesagt werden: Zurück geht es nicht. Die paranoide Schwarz-Weiß-Malerei, die sich gestern schon veraltet anfühlte, wird erst recht nicht dazu geeignet sein, die Zukunft positiv zu gestalten. Es bleibt zu hoffen, dass die Erfahrung mit einem tatsächlichen Ausnahmezustand dem infantilen Kokettieren mit alarmistischen Notstandsbeschwörungen einen Riegel vorschiebt und somit auch die deutsche Liebe zur geplanten Alternativlosigkeit erkaltet.
Wie gut das gelingt, liegt nicht an Merkel oder Scholz, nicht an Schlott oder Horx, sondern an Hinz und an Kunz – und daran, wann wir uns wieder trauen, gemeinsam im Garten zu grillen. Die Vorfreude hilft mir schon jetzt.
Dieser Artikel ist am 22. März 2020 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.
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