„Freiheit ist ein Genuss – und Genuss ist Freiheit!“

Der Blog „Ruhrbarone“ hat am 2. Oktober 2015 eine Kurzfassung des Essays „Genusskulturkampf“ aus meinem Buch „Zeitgeisterjagd“ veröffentlicht. Der Text heißt:

„Freiheit ist ein Genuss – und Genuss ist Freiheit!“

„Freiheit ist ein Genuss – und Genuss ist Freiheit!“

Was bevorzugen Sie: ein gutes Essen, Mountainbiking im Himalaya, eine feucht-fröhliche Kneipentour mit Freunden, die Lektüre eines guten Buches oder eine Auspeitschung im SM-Studio? Was es auch immer ist: es sei Ihnen gegönnt. Für jeden Menschen ist Genuss etwas anderes, vor allem aber Geschmacksache. Oder etwa nicht?

Ja, wir leben in einer Genussgesellschaft. Nicht, weil wir uns jeden Genuss leisten können, sondern weil Genuss eine der wenigen individuellen Zielsetzungen ist, die die Gesellschaft in Bewegung hält. In dem Maße, in dem viele öffentliche Bereiche des Lebens an Bedeutung verlieren, erfahren private Ausrichtungen und somit auch das Ausleben der eigenen Individualität über verschiedenste Genussformen eine starke Aufwertung. Diese „Politisierung“ persönlicher Vorlieben und Genüsse vollzieht sich in dem Maße, in dem sich die Menschen aus der „politischen“ Öffentlichkeit zurückziehen und ihr Glück im Privatleben suchen, das leider dadurch nicht mehr wirklich privat ist.

Die Art, in der private Vorlieben öffentlich beurteilt werden, legt in einer Gesellschaft, die vom Misstrauen gegenüber „den Anderen“ geprägt ist, die Freiheit des privaten Genießens in enge Ketten. „Über Geschmack lässt sich streiten“ – dieser einstmals Toleranz gegenüber den privaten Vorstellungen und Vergnügungen anderer signalisierende Satz wird heute in immer weniger Bereichen noch als gültig empfunden. Je stärker der von speziellen Vorlieben ausgehende potenzielle Einfluss auf die Gesellschaft ist, desto genauer und kritischer wird hingeschaut. Je mehr eine Vorliebe aber ausschließlich nach „innen“ orientiert ist, desto unproblematischer wird sie gesehen. Beispiele für diese Innen-Orientierung sind: das Es-Sich-Gemütlich-Machen in den eigenen vier Wänden, im Privatleben oder im eigenen Körper. Es geht dabei um private Abgeschiedenheit, das Für-sich-Sein und auch darum, sich eine Auszeit zu nehmen von der „Welt da draußen“.

Im Gegensatz zu diesen „Rückzugs-Genüssen“ gibt es eine Reihe anderer Genüsse, die stärker auf dem Prüfstand und unter Beobachtung stehen. Viele sind extrovertierter, geselliger Natur und beanspruchen öffentlichen Raum. Und es gehören auch solche dazu, die als unvernünftig und gesundheitsschädigend gelten – und es manchmal tatsächlich auch sind. Warum ist es so, dass Menschen oftmals Dinge tun, die sie ansonsten sich und anderen verbieten würden? Muss das denn sein? Ja, muss es! Weil diese Art von „Ausbruchs-Genüssen“ gerade davon lebt, etwas zu tun, was man „eigentlich“ nicht tun sollte. Es macht einen Großteil dieses Genussreizes aus, die Grenzen der Schicklichkeit, der Vernunft und des Anstands auszutesten und auch zu überschreiten, ohne diese dabei aber grundsätzlich infrage zu stellen. Wir genießen die Lust daran, etwas Verruchtes zu tun.

Was den Ausbruchs-Genuss vom Rückzugs-Genuss unterscheidet, ist seine Kompatibilität mit der Gesellschaft. Deren Bereitschaft, individuelle Freiheiten zu erlauben, ist einem steten Wandel unterworfen. Für den Rückzug von den öffentlichen Flächen bedarf es hingegen keiner Erlaubnis; was er braucht, ist Nichtöffentlichkeit, Ungestörtheit und Ungeselligkeit – damit passt er viel besser zum modernen Zeitgeist. Der Ausbruchs-Genießer ist daher eher dafür prädestiniert, sich der Verteidigung von Freiheiten zu verschreiben als der Rückzugs-Genießer, der vor allen Dingen „seine Ruhe“ (geschützt) haben will, koste es, was es wolle.

Die andauernden Auseinandersetzungen in Deutschland über Rauchverbote zeigen dies sehr deutlich: Der klassische Rückzugs-Genuss (öffentlich nicht von Zigarettenrauch behelligt werden) gilt vielen heute als höherwertiger als der Ausbruchs-Genuss (öffentliches Rauchen). Der staatlich geprüfte und verteidigte Schutz des Rückzugs-Genusses steht der Freiheit zum Ausbruchs-Genuss entgegen. Dies zeichnet die introvertierte und vernunftgesteuerte Genusskultur unserer Tage aus: Ihr Leitmotiv ist die Eindämmung öffentlicher Ausbruchs-Genüsse mit dem Ziel, den „verantwortungsbewussten Rückzugs-Genießer“ vor „verantwortungslosen Störern“ zu schützen.

Bei aller gesellschaftlicher Wertschätzung des Rückzuges und der Zurückhaltung zugunsten einer „unbehelligten“ Öffentlichkeit: Viele Menschen reagieren gegen den Vorrang des streng vernünftigen und unbedingt sozialverträglichen Rückzugs-Genusses und geben sich zuweilen kollektiv Ausbruchs-Genüssen hin. Dies ist eine Begleiterscheinung des Verschwindens der öffentlichen, geselligen und unbeschwerten alltäglichen und öffentlichen Genusskultur. Ohne dies wäre das Phänomen der „Public-Viewing“-Euphorie bei Großereignissen wie Fußball-Welt- und -Europameisterschaften oder dem Eurovision Song Contest kaum zu erklären.

Auch der Wandel der gesellschaftlichen Bedeutung von Veranstaltungen wie etwa dem Münchner Oktoberfest zeigt es: Immer mehr Menschen geht es um das Erleben von ausschweifender Kollektivität im öffentlichen Raum, um das massenhafte Ignorieren üblicher Gepflogenheiten, ja sogar um den bewussten Verstoß gegen Recht und Ordnung. Dies ist eine direkte Gegenreaktion auf die zunehmende Regulierung und Verengung des öffentlichen Raumes sowie der fortschreitenden Vereinzelung, aus der sich die Menschen gelegentlich „eruptiv“ befreien müssen.

Wie viel die gesellschaftlichen Möglichkeiten des Genusses mit dem Gefühl der eigenen Freiheit zu tun haben, zeigt sich auch an der hohen Emotionalität, die zutage tritt, wenn liebgewonnene Genussangewohnheiten den Rang einer Unbotmäßigkeit oder gar einer Illegalität zugeschrieben bekommen. Während in vielen Bereichen die Beschneidung von Freiheitsrechten häufig ohne große Gegenwehr geschieht, sind es gerade persönliche Gewohnheiten, deren Kriminalisierung Menschen auf die Barrikaden bringt.

Das ist auch gut so. Denn wogegen hier rebelliert wird, ist die dieser moralischen (und zunehmend auch rechtlichen) Verurteilung zugrundeliegende Annahme, dass Menschen nicht in der Lage sind, ihr Leben frei und selbstbestimmt zu gestalten. Und in der Ablehnung dieser Annahme dürften sich sowohl Ausbruchs- als auch Rückzugsgenießer einig sein.

Der vorliegende Text ist eine stark gekürzte Fassung des Essays „Genusskulturkampf“ aus meinem Buch „Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“.