Mein Geist der Weihnacht ist ein Humanist

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Wer Religionen und religiöse Feste einfach nur zynisch und pauschal abkanzelt, der hält in der Regel auch nicht viel vom Menschen.

„Alle Jahre wieder derselbe Stress!“ „Alles dreht sich nur ums Fressen und Konsumieren!“ „Wir beschenken uns, gaukeln uns Frieden vor, und anderswo herrscht Krieg!“ „Das alljährliche Massenschlachten der Gänse ist unmoralisch!“ „Einmal im Jahr rennen die Leute in die Kirche, alle haben sich lieb, und danach wird weitergehasst!“ Die Liste solcher Aussagen über das Weihnachtfest ließe sich beliebig fortsetzen, jeder kennt Dutzende solcher Statements und hat sicherlich auch selbst Bekannte, die in etwa so denken. Und wer etwas auf sich hält, nickt entweder betroffen mit dem Kopf oder stimmt ein in den Sermon. Denn tatsächlich gilt man heute als up to date, aufgeklärt und kritisch, wenn man Ähnliches zum Besten gibt, zumindest aber die eigene Distanz zum alljährlichen Weihnachtsritual unterstreicht und von sich sagt: „Ich mache da nicht mit, ich renne mir nicht die Füße wund, nur weil Geschenkekaufen im Kalender steht, ich bin da ganz anders.“

Bei Weihnachts-Bashing geht es nicht um Religionskritik

Aber ist man mit einer solchen Haltung wirklich so anders und so kritisch? Und vor allen Dingen: Ist man dadurch irgendwie bewusster, ehrlicher, besser als andere? Ich persönlich glaube das nicht. Es ist nicht erstrebenswert oder gar fortschrittlich, wenn man das, was so vielen Menschen um uns herum wichtig ist, worauf sie sich freuen und woran sie glauben, arrogant und von oben herab kommentiert und zynisch beurteilt. Natürlich kann man religiösen Traditionen und gesellschaftlichen Ritualen kritisch gegenüberstehen. Doch bei dem alljährlichen Weihnachts-Bashing geht es nicht um Religionskritik, sondern darum, sich selbst über andere Menschen zu erheben, sie herabzuwürdigen und ihnen das zu verderben, woran sie hängen. Daran kann ich nichts Positives entdecken.

Auch bei uns zu Hause war Weihnachten immer auch ein innerfamiliärer Stresstest, insbesondere weil meine Mutter bei der Kirche arbeitete und die Weihnachtstage für sie immer die härtesten Arbeitstage des Jahres waren. Dennoch schafften meine Eltern es immer, dass mit dem Auflegen der obligatorischen Weihnachts-Schallplatte die negativen Stimmungen verschwanden und alle sich größte Mühe gaben, so gut zueinander zu sein, wie es eben ging. Und es ging immer ziemlich gut. Weihnachten war bei uns kein frommes Fest, wir hatten unsere eigenen Familienrituale entwickelt, die diesen Abend selbst für einen praktizierenden Ungläubigen wie mich zu einem irgendwie „heiligen Abend“ machten.

Menschengemachte Wertesysteme

Vielleicht sind es Erinnerungen wie diese, die dazu beigetragen haben, dass meine eigene Gottlosigkeit nicht in Religionsfeindlichkeit oder gar in Ablehnung religiöser Menschen umgeschlagen ist. Ich sehe Religionen nicht als göttliche Eingebungen, sondern als menschgemachte, kulturelle und intellektuelle Wertesysteme. Menschen können ewiggestrig und unmenschlich, aber au sein. Für menschgemachte Religiosität gilt dies auch, wie für viele andere Glaubensuniversen, Gedankengebäude, politische Überzeugungen und solche, die vorgeben, keine zu sein. Sie alle tragen zu der Entwicklung dessen bei, was wir Zivilisation nennen. Über die konkreten Beiträge kann man trefflich streiten. Wer Religionen und religiöse Feste aber einfach nur zynisch und pauschal abkanzelt, der hält in der Regel auch nicht viel vom Menschen.

Es liegt im Trend, Religionen für das Elend der Welt verantwortlich zu machen. Schließlich gibt es kaum Konflikte, in denen nicht Religionen als Motive oder Ursachen genannt werden. Dennoch denke ich, dass Kriege nicht durch den religiösen Glauben, sondern durch eine Vielzahl von Faktoren entstehen. Der allzu plumpe Verweis auf jahrhundertealte Religionen erklärt keinen einzigen modernen Konflikt, und er macht auch keine fortschrittliche Lösung sichtbar. Es gibt zweifelsfrei viele gute Gründe, Religionen und Ideologien zu kritisieren, aber nicht jede Religionskritik fußt auf solch guten Gründen. Und obwohl ich nicht gläubig bin, gerate ich immer wieder in Situationen, in denen ich die Freiheit religiöser Menschen gegen teilweise sehr freiheits- und auch menschenverachtend argumentierende Religionskritik verteidige.

Aufgeklärter Atheismus verschwindet

Es entspricht ebenfalls dem Zeitgeist, mit religiösen Menschen hart ins Gericht zu gehen. Und damit meine ich nicht nur die Muslime. Denn obwohl wenn sich dieser Tage viele Menschen der „Rettung des christlichen Abendlandes“ verschrieben haben, so hat dies nichts mit einem Revival des christlichen Glaubens zu tun. Die behauptete christliche Verwurzelung fungiert eher als eine notdürftige Verkleidung einer antiislamischen Monstranz. Tatsächlich gehören praktizierende Christen eher selten zu denjenigen, die in inhumaner Art und Weise pauschale Urteile über Großgruppen fällen und den Einzelnen aus dem Blick verlieren.

Während religiöse Menschen mir zumeist eher als interessiert, diskussionsfreudig und auch offen gegenübertreten, kann ich genau das von selbsterklärten Religionsfeinden und Atheisten nur selten sagen. Oftmals vermitteln diese den Eindruck, jede aufklärerische Zuneigung zur Freiheit des Einzelnen abgelegt zu haben. Stattdessen wird mit rigoroser Absolutheit gegen die Glaubens- und Meinungsfreiheit Andersdenkender und -glaubender vorgegangen und dabei behauptet, man rette die westliche Zivilisation. Tatsächlich sind viele dieser vorgeblich modernen Atheisten weniger fortschrittlich, aufgeklärt und zivilisationsinteressiert als diejenigen, die sie glauben bekämpfen zu müssen.

Glauben an Gott durch Glauben an das Schlechte ersetzt

Über viele Jahrhunderte hat das Streben nach Aufklärung, nach Befreiung des Menschen und nach gesellschaftlichem Fortschritt die Entwicklung der modernen Gesellschaft und auch des religionskritischen Denkens geprägt. In dem Maße aber, in dem Aufklärung und Humanismus in den vergangenen Jahrzehnten außer Mode geraten sind, ist auch der aufgeklärte Atheismus verschwunden. Heutige Atheisten wirken häufig sehr zynisch, desillusioniert und pessimistisch, misstrauisch und misanthropisch. Sie scheinen den Glauben an Gott durch den Glauben an das Schlechte des Menschen ersetzt zu haben. Gern hüllen sie ihren missmutigen Weltschmerz in ökologisches und planetenretterisches Vokabular. In ihrer Verachtung der modernen Gesellschaft ähneln sie jedoch auf fatale Weise den heute nicht nur in der arabischen, sondern auch in der westlichen Welt nachwachsenden selbsternannten Gotteskriegern.

Auch als Ungläubiger freue ich mich

Diese oft wissenschaftlich verbrämte Misanthropie ist der Grund, warum ich mich als nichtreligiöser Mensch in betont religions- und kirchenkritischen Kreisen häufig unwohl fühle: Die Ablehnung des Glaubens an Gott geht hier zuweilen Hand in Hand mit der offenen Ablehnung einer humanistischen Weltsicht. Tatsächlich sind mir menschliches Handeln und humanistisches Denken in religiösen Kreisen häufiger begegnet als in atheistischen.

Vor diesem Hintergrund freue ich mich als Ungläubiger immer auf das Weihnachtsfest. Ich sehe es als einen Anlass, zu dem viele Menschen versuchen, anderen eine Freude zu machen und selbst anders zu sein als im Rest des Jahres. Ob sie die Kraft dazu aus religiösen Vorstellungen oder sonst woher ziehen, spielt für mich keine Rolle. Mich interessiert allein das Handeln und ob man es schafft, sich vom zynischen Zeitgeist nicht anstecken zu lassen. Hierin besteht für mich der Geist der Weihnacht: Er ist für mich kein Christ, kein Moslem oder Atheist, sondern ein Humanist. Und darauf hätte auch meine Mutter das Glas erhoben. Frohe Weihnachten!

Dieser Artikel ist am 25.12. in der Kolumne „Schöne Aussicht“ bei Cicero Online erschienen.