„Die Wissensgesellschaft beschränkt ihre Kinder“

Über das Nebeneinander von Forderungen nach besserer Bildung sowie wachsender Skepsis gegenüber Forschung und Wissenschaft.

(Erschienen in Novo37, November 1998)

Öffentliche Debatten über die Zukunft der Hochschulen reduzieren sich allzu oft auf eine Debatte über veraltete Strukturen und das Fehlen finanzieller Mittel. Der Bildungsnotstand wird beispielsweise festgemacht an der schlechten Ausstattung von Bibliotheken, die Schülern und Studierenden den Zugang zum aktuellen Wissensstand verwehren. Die Überfüllung der Hörsäle ist ebenfalls ein Reizthema. Die Strukturen des Universitätsbetriebes im allgemeinen sowie die insgesamt zu lange Studiendauer, die es deutschen Absolventen erschwert, sich international gegenüber jüngeren Kollegen aus dem Ausland zu behaupten, werden als weitere Schwachpunkte des deutschen Bildungssystems genannt.

Es fällt auf, daß sich Reformdiskussionen in aller Regel mit der Organisation des Studiums und dem Geldmangel beschäftigen und das Problem sehr technisch und oberflächlich beschrieben wird. Die grundlegende Problematik, das sinkende Bildungsniveau in Deutschland, wird zu einem Organisationsproblem heruntergespielt. Fakt ist jedoch, daß sowohl an Schulen als auch an Hochschulen die Anforderungen und die Ansprüche an Bildung immer niedriger werden. Ein Blick auf den deutschen Bildungsalltag verdeutlicht, daß mehr fehlt als nur Geld.

Kürzlich sorgte in Hessen der Fall eines 15jährigen Schülers aus dem Landkreis Darmstadt-Dieburg für Aufregung: Mit fünf mal ”Mangelhaft” und einem ”Sehr gut” in Sport im Zeugnis wurde er in die nächste Klasse versetzt. Diese Meldung blieb keine Ausnahme: Ein Schüler aus Hanau erhielt trotz mangelhafter Leistungen in den Fächern Deutsch, Englisch, Mathematik, Physik und Geschichte den Hauptschulabschluß und sogar die Zugangsberechtigung für die Berufsfachschule.

Nicht nur die Bewertungspraxis, auch die inhaltliche Ausbildung an den Gymnasien läßt zu wünschen übrig. Der Direktor des Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung, Jürgen Baumert, kritisierte das Unterrichtsniveau an deutschen Schulen und stellte ernüchtert fest, daß heutzutage ”Achtklässler nicht einmal ein elementares Verständnis von einem naturwissenschaftlichen Experiment haben”. Internationale Vergleichsstudien ergaben zudem, daß deutsche Schüler in Mathematik allerhöchstens durchschnittliche Leistungen erbringen. Aber auch selbst einfache Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben und die Konzentrationsfähigkeit können am Ende der Schullaufbahn oft nicht mehr vorausgesetzt werden.

An den Hochschulen schlägt sich dies nieder. Bereitwillig gestehen Universitätslehrkräfte ein, sich in ihren Vorlesungen und Seminaren an das gesunkene Niveau der Abiturienten anzupassen. In den gesellschaftswissenschaftlichen und philologischen Fachbereichen werden seit Jahren die Anforderungen an die Studierenden kontinuierlich zurückgeschraubt. ”Die heutigen Studenten lesen wenig, beschweren sich über zu lange Leselisten, sind sprachlich schlechter und haben zu wenig Allgemeinbildung und Orientierung”, beschrieb eine Lehrkraft an der Uni Frankfurt die bittere Situation. Die Folge: Oft reicht heute schon die Lektüre eines Buches zum Erwerb eines Leistungsscheins im Studium.

In anderen Bereichen kann man ähnliches feststellen. So ist es in den Wirtschaftswissenschaften mittlerweile normal geworden, Erstsemesterstudenten zusätzliche ”Liftkurse” in Mathematik zu empfehlen, um ihnen überhaupt den Einstieg ins Studium zu ermöglichen. Auch andere Fachbereiche müssen Kurse in allgemeinbildenden Fächern anbieten, damit schulische Grundlagen nachgeholt werden können (Spektrum der Wissenschaft 6/98, S.46). Selbst in als arbeitsintensiv und anspruchsvoll geltenden Fächern herrscht zuweilen ein Verständnis von Bildung vor, das sich auf das Auswendiglernen von Faktenwissen und das Reproduzieren des Gehörten und Gesagten beschränkt.

Die gesunkenen Leistungen der Hochschuleinsteiger heizen die Debatte über und Experimente mit Prüfungsanforderungen, Prüfungsformen und Benotungskriterien an. Traditionelle Prüfungsformen gelten als antiquiert und oft zu hart, Studiengänge werden ”verschlankt” und Prüfungsordnungen vereinfacht. An einigen Universitäten werden zudem in jüngster Zeit im Fachbereich Rechtswissenschaften die Noten der Leistungsnachweise des Grundstudiums nicht mehr in die Abschlußnote eingerechnet, was letztlich die Bedeutung der Grundlagenscheine wie auch der Notengebung reduziert. In einigen naturwissenschaftlichen Forschungsbereichen wiederum führt die eklatante Diskrepanz zwischen der angewachsenen Stoffmenge und der schlechter werdenden Schulbildung dazu, daß man mittlerweile resigniert den Anspruch aufgibt, den Studierenden einen umfassenden Überblick über die Vielfältigkeit eines Faches zu vermitteln.

Diese Beispiele zeigen deutlich, daß das Problem des sinkenden Bildungsniveaus kein Universitätsproblem im engeren Sinne und somit nicht allein im Rahmen einer besseren Bildungspolitik zu lösen ist. Mit Sicherheit wären eine Aufstockung des Bildungsetats sowie das Aufteilen der Studierenden in kleinere Gruppen, um eine aktivere Auseinandersetzung mit dem Studienfach zu fördern, sinnvolle Maßnahmen. Aber selbst die umfassendste Universitätsbibliothek und die modernste Schulausstattung können nichts daran ändern, wenn der Gesellschaft und mit ihr ihrer Lehrer-, Professoren- und Studentenschaft Wissensdurst und Forscherdrang abhanden kommen.

Genau dies ist die Ursache des Problems. Die Einstellung gegenüber Bildung und Wissen hat sich in den letzten Jahren dramatisch verändert. Der Glaube daran, daß Wissenschaft und Fortschritt positive Attribute einer Gesellschaft sind, wird immer stärker in Frage gestellt. Statt dessen gilt vielen die Forschung als ein von den Zielen und Errungenschaften der Gesellschaft abgekapselter Wirtschaftssektor, von dem eher Gefahren als Fortschritte zu erwarten sind.

Für Tillmann Küchler vom renommierten Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) ist der ”Glaube an eine Wirkungsbeziehung zwischen Wissenschaft, Forschung, Bildung, Ausbildung und dem emanzipatorischen Streben und dem Fortschritt” Teil eines politischen Paradigmas, das seine Gültigkeit verloren hat (Forschung & Lehre 5/98, S.240). Zutreffender läßt sich die Situation kaum beschreiben.

Diese veränderte Einstellung gegenüber Wissen hat Rückwirkungen auf das Selbstverständnis der Hochschulen. Früher galt das Bildungsmodell Wilhelm von Humboldts als das Leitbild der Universität. Grundlage dieses Modells war das positive Verhältnis der Gesellschaft zu Wissen und Entwicklung. In dieser für das 19. und 20. Jahrhundert normgebenden Konzeption waren die Hochschulen das Zentrum der gesellschaftlichen Wissensproduktion. Sie fungierten als wichtige Schrittmacher des sozialen Fortschritts. Die praktizierte akademische Freiheit und die Betonung des ”Forschens als eigenständige Wahrheitssuche und Wissensaneignung” zum Wohle der Gesellschaft machten die Universität zum Ort der freien und universellen Wissenschaft. Dies begründete ihre besondere gesellschaftliche Stellung.

All das wird heute in Frage gestellt. Im selben Maße, wie die soziale Funktion von Wissen heute bestritten und diskreditiert wird, gilt auch der Anspruch der Hochschule, treibende Kraft des Fortschritts zu sein, als Relikt alter Zeiten. ”Forschung als Lehre und Lehre als Wissenwollen sind nicht mehr gefragt”, stellte in diesem Sinne Dr. phil. Jörg Wolff von der Universität Lüneburg fest. Er fordert die Rückbesinnung auf das alte Prinzip der universitären Bildung, nach dem jeder Student lernen sollte, ”sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen” (Forschung & Lehre 9/98, S.478).

Mit dieser Forderung steht Wolff ziemlich allein da. Heute beschwören Hochschultheoretiker wie Vertreter des Bildungsestablishments den Tod des Humboldtschen Bildungsideals. Die Tatsache, daß der Abschied von Humboldt sogar als Befreiung von überholten Traditionen gefeiert wird, verdeutlicht, wie sehr sich die Wahrnehmung gewandelt hat. In den Augen vieler Kommentatoren hat der Bildungs- und Wissensbegriff viel von seinem fortschrittlichen und gesellschaftsfördernden Charakter eingebüßt. Bildung, Forschung und Wissen sind mittlerweile in zahlreichen aktuellen Diskursen negativ besetzt.

Die Unsicherheit über Sinn und Zweck des Unibetriebs ist Spiegelbild der generellen Verunsicherung, der Horizontverengung und des sinkenden Selbstvertrauens sowie der niedrigeren Erwartungshaltung der Gesellschaft am Ende des Millenniums. Die wachsende Anspruchslosigkeit und die Sorge vor weiterem Zerfall führt dazu, daß sich Schwerpunkte des Lernens und Studierens verschieben. Die Uni wird daher heute von einigen primär als Ort der Wertvermittlung gesehen.

Neben der Wissensvermittlung in klassischen Disziplinen rücken andere Aufgaben, die Schule und Hochschule übernehmen sollen, zunehmend in den Vordergrund: Soziales Verhalten, Konfliktlösungskompetenzen und kommunikative Fertigkeiten. Wie der Sprecher der Konferenz der Fachbereiche Physik, Prof. Dr. Konrad Kleinknecht, an anderer Stelle dieses Magazins ausführt, bleiben bei dieser Schwerpunktverschiebung die ”harten” Naturwissenschaften auf der Strecke. Sie gelten schon heute als unmodern und werden zuweilen sogar offen verunglimpft und für gesellschaftliche Mißstände verantwortlich gemacht. Diese Verschiebung der Lehrinhalte führt zur weiteren Verschlechterung des Bildungsniveaus.

Betrachtet man diese Realitäten des Bildungsalltags im Kontext der aufgeregten Diskussionen über die schlechten Zuständen an Schulen und Universitäten, ergibt sich ein paradoxes Bild: Einerseits wird den Bildungsinstitutionen mangelnde Modernität und zu schlechte Wissensvermittlung vorgeworfen. Gleichzeitig wird betont, daß sich in der ”globalen Wissensgesellschaft” nur derjenige behaupten kann, der gewillt ist, lebenslang dazuzulernen.

Andererseits herrscht in der Gesellschaft jedoch große Unsicherheit, wie mit Wissen umzugehen ist, ob es überhaupt gut ist, immer weiter zu forschen und dabei Risiken einzugehen und das Wissen somit ständig zu vergrößern. Der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, Prof. Hartmut Schiedermair, brachte diese pessimistische Haltung auf den Punkt: Für ihn sind wissenschaftlich fundierte Gewißheiten trügerisch, da die Suche nach der Wahrheit ”eben immer nur Suche sein kann, weil das Rätsel Zukunft unlösbar ist und daher Zukunft selbst daher stets Wagnis und Risiko bleibt” (Forschung & Lehre 5/98, S.233).

Dieselben Verantwortungsträger, die einerseits den Vorwurf äußern, in Deutschland werde zu schlecht ausgebildet, stellen andererseits die Frage, ob der Mensch überhaupt in der Lage ist, Wissen sinnvoll zu entwickeln und einzusetzen.

Dieses Klima voller Zweifel und Skepsis lähmt die Gesellschaft, die statt weniger immer mehr Wissen und hochgebildete Menschen benötigt, um voranzukommen. Das Bildungsparadigma offenbart somit die Gefahren der Risikoethik, die von dem Soziologen Ulrich Beck begründet wurde und sich großer Beliebtheit erfreut. Beck formulierte in seinen Schriften, daß es längst nicht mehr möglich ist, daß Menschen die Entwicklung von Wissenschaften und neuer Technologien kontrollieren, weil diese gerade wegen ihres hohen Entwicklungsstands unvorhersehbare Risiken in sich verbürgen.

Wissen wird in einer Gesellschaft, in der Unsicherheit regiert, selbst als Risiko empfunden. Glaubt man den modernen Risikoethikern, führt mehr und mehr Wissen die Menschheit unweigerlich an den Rand des Abgrunds. Eine solche Sicht wird für die Zukunft unserer Gesellschaft fatalere Folgen haben als jeder Unfall mit neuen Technologien und jeder Rückschlag bei der Forschung.

Für die Universitäten ergibt sich hieraus ein aus eigener Kraft unlösbares Dilemma. Sie sind Spiegelbild der Gesellschaft und stehen und fallen mit der Fähigkeit der Menschen, ihr Selbstvertrauen zurückzugewinnen.